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Israel: Start-ups, Siedler und „smarte Pazifisten“

Einsichten und Perspektiven 3 | 17

schübe lagen insbesondere im zionistischen Gedanken

begründet oder im Wunsch, unbehelligt gemäß der jüdi-

schen Tradition zu leben. Die sogenannte „russische Mas-

sen-Alija“

14

in den 1990er Jahren hatte schließlich mehr

mit Familienzusammenführungen, Furcht vor Juden-

feindschaft in den Herkunftsländern und der Hoffnung

auf Verbesserung des Lebensstandards zu tun.

Eine weitere Gruppe, heute etwa Hunderttausend an der

Zahl, prägt das vielgestaltige Judentum Israels: Nachdem

1975 die

Beita Israel

, die äthiopischen Juden, von den israe-

lischen Rabbinern als afrikanische Glaubensgenossen aner-

kannt wurden, setzte sich die Regierung für deren Einwan-

derung in den jüdischen Staat ein. Mitte der 1980er und zu

Beginn der 1990er Jahre wurden im Zuge der „Operation

Moses“ und der geheimen Aktion „Salomo“ zehntausende

Äthiopier eingeflogen. Die Anerkennung als Juden gilt seit

1998 auch für deren Landesgenossen, die unter Zwang zum

Christentum konvertierten, den

Falaschmura

. Die Afrika-

ner brachten nicht nur ihre eigene Kultur nach Israel, sie

unterschieden sich auch im Bildungsstand signifikant von

der israelischen Bevölkerung – bis heute sind sie an den

Universitäten unterrepräsentiert; die Arbeitslosenquote ist

überdurchschnittlich hoch.

Die „jüdische Demokratie“

Bei aller religiösen Diversität darf keinesfalls vergessen

werden: Fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Isra-

els bezeichnet sich als säkular.

15

Obwohl diese also mit

Abstand die größte Gruppe innerhalb des Spektrums der

religiösen Spielarten ausmachen, ist der Staat nach wie

vor als „jüdisch-demokratischer Staat“ definiert.

16

Die

Definition des Jüdischen ist dabei nicht auf einen Nati-

onsbegriff reduziert, sondern beinhaltet durchaus explizit

religiöse Aspekte. Das beginnt bereits bei der Staatsflagge:

Die Farbgebung symbolisiert den blau-weißen jüdischen

Gebetsschal, der Davidstern steht für die Beziehung der

Menschen zu Gott. Auch die Unabhängigkeitserklärung

von 1948 verweist auf den religiösen Charakter des jüdi-

schen Volkes; in ihr ist von der Bibel genauso die Rede

14 Der hebräische Begriff

Alija

(„Aufstieg“) bezeichnet in der Bibel die

Rückkehr von Juden in das Heilige Land und wird seit der Entstehung der

zionistischen Bewegung allgemein für die jüdische Einwanderung nach

Palästina, seit 1948 nach Israel verwendet.

15 Offizielle israelische Statistiken ergeben, dass sich 42 Prozent der israe-

lischen Juden als „säkular“ bezeichnen, 25 Prozent als „traditionell“, der

Rest als „religiös“, also orthodox in der Glaubensauslegung. Vgl. Michael

Hasin: Viele Wege führen nach Jerusalem, 16.07.2015, http://www.

juedische-allgemeine.de/article/view/id/22789

[Stand: 20.06.2017].

16 Im Folgenden vgl. Neuberger (wie Anm. 12).

wie von den Visionen der Propheten. Israel ist von einer

Trennung von Staat und Religion aber auch institutionell

weit entfernt: Glaubensinstitutionen wie das Oberrabbi-

nat oder die religiösen Räte fungieren als Staatsorgane.

Auch private Entscheidungen werden davon beein-

flusst. Während die Religionsfreiheit in Israel trotz der

jüdischen Dominanz geachtet wird, ist es für Atheisten

und Agnostiker zuweilen kompliziert, ihr Leben selbstbe-

stimmt zu gestalten. Es gibt in Israel beispielsweise keine

Zivilehe – jeder heiratet nach den Richtlinien seiner jewei-

ligen Religion, was etliche Säkulare zwingt, im Ausland zu

heiraten und die Ehe im Nachhinein zuhause anerkennen

zu lassen.

17

Sogar das Scheidungsrecht obliegt den religiö-

sen Gemeinden.

18

„Zweifellos kollidiert die ultra-orthodoxe Definition

eines jüdischen Staates, in dem die

Halacha

(die göttliche

Religionsgesetzgebung) das Staatsgesetz ist, mit der welt-

lich-liberalen Definition eines demokratischen Staates“

19

,

schreibt Benyamin Neuberger, emeritierter Professor der

Politikwissenschaft an der

Open University of Israel

. Zwi-

schen einem demokratischen Staat und einem jüdischen

Staat im national-zionistischen Sinne müsse es dagegen

keine Kollision geben: Ein solcher sei „ein Staat des jüdi-

schen Volkes, dessen Identität vor allem auf gemeinsamer

Geschichte, auf Erinnerung der Verfolgungen in der Dia-

spora, auf einer gemeinsamen pluralistischen Kultur und

auf der hebräischen Sprache beruht“. Man könne den

jüdischen Staat auch, ganz im Sinne des Gründers der zio-

nistischen Bewegung Theodor Herzl, schlicht demogra-

phisch definieren: als Staat mit einer jüdischen Mehrheit.

Als David Ben-Gurion, der erste Ministerpräsident des

Landes, 1948 den jüdischen Staat ausrief, tat er dies vor

einem überlebensgroßen Porträt Herzls, der als geistiger

Gründervater heute in Israel verehrt wird. Tatsächlich

widerspricht die israelische Realität den ursprünglichen

Vorstellungen Herzls vom „Judenstaat“.

20

Insbesondere

die Rolle der Religion sollte nach Meinung des assimi-

lierten österreichischen Juden, der sich zu Weihnachten

17 Das gilt auch für konservative und liberale Jüdinnen und Juden, deren

Rabbiner ebenfalls keine gültigen Ehen schließen dürfen. Wer sich das

Jawort nicht nach den orthodox-rabbinischen Gesetzen geben möchte

oder einen nicht-jüdischen Partner wählt, fliegt in der Regel ins vierzig

Flugminuten entfernte Zypern und füllt auf dem Standesamt unbüro-

kratisch ein paar Dokumente aus. Für die Heiratswilligen werden von Tel

Aviver Agenturen Pauschalreisen angeboten.

18 Im Folgenden vgl. Neuberger (wie Anm. 12).

19 Hier und im Folgenden ebd.

20 Theodor Herzl: Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der

Judenfrage, Berlin/Wien 1896.