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Katar: Im Anfang war das Öl

Einsichten und Perspektiven 3 | 15

Bis 2030 soll sich die

National Vision

der herrschenden

Familie Al Thani erfüllen: Spitzenreiter in Architektur,

Technik, Sport und Bildung will man dann sein. Die

WM 2022 ist ein Stützpfeiler dieses nationalen Selbstver-

wirklichungsprogramms: Es werden 200 Milliarden US-

Dollar investiert. Neun WM-Stadien sollen gebaut, drei

bereits bestehende renoviert werden, alles „CO

2

-neutral“.

Der neue Flughafen wird dreimal so groß wie der jetzige.

Schließlich soll es kein Gedränge geben, wenn in sieben

Jahren die Welt zu Gast ist. Die Metro in Doha, der neue

Hafen, die künstliche Insel

The Pearl

– die Liste der Mega-

projekte ließe sich fortsetzen. Zum Beispiel mit Lusail

City: Die Retortenstadt wird für 45 Milliarden US-Dollar

buchstäblich aus dem Sand gehoben, in der Wüste nord-

östlich von Doha. Hier sollen einmal 200.000 Menschen

leben, 170.000 arbeiten und 80.000 Urlaub machen kön-

nen. Bis zur WM sollen in Lusail 22 Hotels für Touristen

entstehen. Auch das größte der neuen WM-Stadien wird

hier gebaut.

Qatar deserves the best

, steht auf großen grünen

Bannern am Rande der Straßen auf dem Weg nach Lusail.

Katarische Realität erinnert ein bisschen an das Pippilotta-

Prinzip: „Ich mach’ mir die Welt, wie sie mir gefällt“.

Auch wenn die Geschichte Katars heute insbesondere

eine Geschichte der Gastarbeiter ist: Ein Blick auf das Leben

der alteingesessenen Familien lohnt sich allemal, um das

Land zu verstehen. Mohammad, der Großvater eines jun-

gen Mannes namens Hasan, war Fischer. Er lebte in Doha,

einer kleinen Stadt am Persischen Golf. 

10

Sein winziges

Haus stand an der Corniche, direkt am Ufer. Mohammads

Vorfahren waren Nomaden, die mit ihren Zelten durch die

Wüste zogen. Heute lebt Großvater Mohammad mit sei-

nem Enkel Hasan, dessen Eltern und den beiden Schwes-

tern in einer golden glänzenden Villa. Vor dem Eingangstor

stehen zwei steinerne Löwen und sechs Luxuswagen, für die

seine Familie sich zwei Fahrer leistet. „Wir sind traditions-

bewusst“, sagt der 23-jährige Hasan: „Fast jede katarische

Familie hat noch ein Zelt im Garten.“ Das Zelt in Hasans

Garten misst vierzig Quadratmeter und ist mit edlen Tep-

pichen, Tischdecken aus Samtbrokat und moderner Unter-

haltungselektronik ausgestattet.

Katar heute – erst vor zwei Generationen wurde das Öl

gefunden. Die Industrielle Revolution in Europa hat ein

Gefühl der Unsicherheit, der Beschleunigung, der Unüber-

schaubarkeit ausgelöst – die Fin-de-Siècle-Literatur ist voll

davon. Es lässt sich nur schwer erahnen, was in den Köpfen

derer vorgeht, die den Fortschritt in die Moderne in einem

noch rasanteren Tempo erlebt haben – derjenigen Genera-

tion in Katar beispielsweise, die Doha bereits vor fünfzig

Jahren ihre Heimat nannte. 

11

„Hier herrschte bis gestern die

Zivilisation Sindbad des Seefahrers“, schreibt der Schwei-

zer Orientalist Arnold Hottinger 1974, im Jahr nach dem

Ölpreisschock und dem damit einhergehenden Reichtum

der Golfstaaten. 

12

In der Tat: Die Entwicklung – vielmehr:

der Boom – kam rasend über das kleine Emirat Katar.

Loyalität als Gesellschaftsvertrag?

Die 80 reichsten Menschen der Welt besitzen zusammen

genauso viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung,

heißt es in einer

Oxfam

-Studie vom Januar 2015. 

13

Das

Ergebnis gilt als Beleg dafür, dass die Schere zwischen Arm

und Reich weltweit immer weiter auseinanderklafft. In

Katar gibt es keine Schere – das gesamte Gesellschaftssys-

Ein Baufahrzeug auf dem Weg zu einer Unterkunft in

Lusail City

: Die Gastar-

beiter arbeiten nicht nur im Staub, sie wohnen auch dort.

10 Der uns bekannte Persische Golf wird auf der Arabischen Halbinsel stets

als „Arabischer Golf“ bezeichnet, was dem Machtkonflikt mit Iran ge-

schuldet ist.

11 Der Historiker Fromherz vertritt die Ansicht, dass die traditionelle Iden-

tität Katars – im Gegensatz derer europäischer Staaten im Zuge der In-

dustrialisierung – durch die Modernisierung nicht ausgelöscht wurde und

begründet dies mit einer Kontinuität in der Geschichte des Landes, die

aber viele gesellschaftliche Entwicklungen ausblendet. Allen James From-

herz: Qatar. A Modern History, London 2012. Rezensiert von Annika Kropf

in H-Soz-Kult, 30.05.2012.

12 Die Momentaufnahme liefert ein aussagekräftiges Porträt der Golfregi-

on Mitte der 1970er Jahre, die den Aussagen des Historikers Fromherzs

diametral widerspricht. Arnold Hottinger: Im Hauptquartier der Erdöl-

produzenten, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken,

Heft 310, März 1974, 28. Jg., S. 266–278; das Zitat: S. 266.

13 Die gesamte Studie: Wealth. Having it All and Wanting More, Januar

2015, online:

http://www.oxfam.de/sites/www.oxfam.de/files/ib-wealth-

having-all-wanting-more-190115-embargo-en.pdf [Stand: 17.09.2015].