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Katar: Im Anfang war das Öl
Einsichten und Perspektiven 3 | 15
Industrial Area
im Südwesten Dohas, Januar 2014:
Eigentlich dürfte Raj Bahadoor gar nicht dort sein, wo
er jetzt sitzt.
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Der 38-jährige Mann aus Kerala in Indien
hat es sich im Schneidersitz auf seiner Matratze bequem
gemacht. Es war wieder eine lange Woche und Bahadoor
hat seinen freien Tag. Einer der unteren Plätze der Stock-
betten wurde ihm zugeteilt. „Es ist verboten, Stockbet-
ten zu benutzen“, heißt es in der Verordnung Nummer
17 des katarischen Ministeriums für Wohnungswesen,
die immerhin schon aus dem Jahr 2005 stammt. Das
Dekret regelt die zweckmäßige Unterbringung von Arbei-
tern. Dass Bahadoor kein Einzelbett hat, ist demnach ein
Verstoß gegen katarisches Recht. Ein ebenso kleiner wie
systematischer, denn nach Einzelbetten kann man lange
suchen in den Unterkünften in der
Industrial Area
– kaum
eine Firma hält sich daran. Das gilt auch für andere Vor-
schriften: Bahadoor teilt sich sein Zimmer mit fünf ande-
ren Arbeitern, erlaubt sind nur vier in einem Raum. Vier
Quadratmeter zur individuellen Entfaltung stünden dem
Inder laut Gesetz in seinem Zimmer zu, doch in dem klei-
nen schmutzigen Raum, in dieser Lücke zwischen den
Schlafplätzen links und rechts, kann er sich gerade ein-
mal um die eigene Achse drehen. Er und seine Kollegen
arbeiten 60 Stunden die Woche. Nicht maximal 48 wie
behördlich vorgeschrieben. Trotzdem sagt er: „Es ist alles
gut hier. Wir haben keine Probleme.“
Bahadoor erzählt stolz, dass er Zimmerer sei. Auf der
Baustelle direkt neben der bekannten „City Center Mall“
in Doha, dort wo er mit seinen Kollegen drei Luxusho-
tels baut, ist seine Tätigkeit hoch angesehen. Er verdiene
1.800 Rial im Monat, sagt Bahadoor. Einen Teil davon
schicke er nach Hause, zu seiner Frau und den Kindern
in Südindien. 1.800 Rial, das entspricht etwa 360 Euro.
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Wenig für einen Knochenjob, der täglich um halb sechs
in der Früh mit einer einstündigen Fahrt von der Unter-
kunft zur Baustelle beginnt und abends um halb sechs mit
der Heimfahrt endet. Bahadoor weiß, dass es ihm damit
vergleichsweise gut geht – immerhin kann er durch das
Geld, das er regelmäßig überweist, seine Familie ein wenig
entlasten.
Die Gesichter der Öl-Revolution
Viele andere, die nach Katar kamen mit der Hoffnung,
genügend Geld zu verdienen, können das nicht. Oftmals
sehen sie nur einen Bruchteil des Gehalts, das in ihren
Verträgen steht – wohin der Rest verschwindet, wissen sie
nicht. Die Studie von
AI
vom November 2013 hat zahlrei-
che Fälle dokumentiert. Immerhin: Bahadoor zumindest
sagt, er habe noch nie auf sein Geld warten müssen.
Während Bahadoor in einer trostlosen Gegend mit
unzähligen Schlaglöchern im Asphalt, Müllbergen auf
den Straßen, zerbrochenen Fensterscheiben und herunter-
gekommenen Häusern untergebracht ist, blüht in Dohas
Zentrum das Leben: funkelnde Einkaufszentren und Bou-
tiquen, elegante Museen, Wolkenkratzer. Auch einen his-
torisch renovierten Altstadtkern gibt es. Dazwischen halb-
fertige Hochhäuser, eine Baustelle neben der nächsten;
Investitionen, wohin das Auge blickt. Die Straßenverläufe
ändern sich praktisch täglich. Die Skyline an der Corniche
und die Arbeitercamps in der
Industrial Area:
Es sind zwei
Gesichter eines 44 Jahre alten Staates, der sich inmitten
seiner wirtschaftlichen Revolution befindet. Ein einzig-
artiges Golfstaaten-Phänomen, anschubfinanziert mit Öl
und Gas.
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Eine Revolution, die weltweit nicht ohne Aner-
kennung bleibt und von der internationale Unternehmen
profitierten, schon lange bevor die Fußball-WM an Katar
vergeben wurde. Mit dabei sind natürlich auch die Indus-
triegiganten Deutschlands wie Siemens, Hochtief, MAN.
Die Retortenstadt
Lusail City
nordöstlich von Doha wird buchstäblich aus
dem Sand gehoben. Von ihren Baustellen aus lässt sich an einem arbeits-
freien Freitag einer der „Zig-Zag-Towers“, Wahrzeichen der Stadt Doha,
betrachten.
7 Hier und im Folgenden Kristina Milz: Fußball zeigt unser Leben, in: zenith.
Zeitschrift für den Orient, März/April 2014, S. 62–72.
8 Umrechnung vgl. Anmerkung 2.
9 Das kleine Land besitzt nach Russland und Iran die weltweit drittgröß-
ten Erdgasreserven, darunter das größte Erdgasfeld der Welt: das North
Gas Field. Katar ist daher weltgrößter Flüssiggasexporteur. Etwa sechzig
Prozent des Bruttoinlandsprodukts stammen nach jüngsten Angaben des
Auswärtigen Amts zu Katar aus dem Gas- und Öl-Geschäft.