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„Bevorst andere Leut’ ausrichst, duast liaba wos Gscheits!“
Einsichten und Perspektiven 3 | 15
te Zeit meines Lebens. Als Streifenführer habe ich an der
innerdeutschen Grenze erstmals im Leben die Erfahrung
gemacht, dass es was anderes als die heile Welt gibt. Mein
Streifenweg führte u.a. durch das geteilte Dorf Mödlareuth
an der bayerisch-thüringischen Grenze (ca. 60 Bewohner,
die Amerikaner nannten es
„Little Berlin“).
Die Vorstel-
lung, dass mein Heimatdorf, wo genau so viele Menschen
wohnten, von einemTag auf den anderen geteilt, Verwand-
te und Nachbarn durch Stacheldraht und Mauer getrennt
würden, war für mich schlicht unvorstellbar.
Bei Einsätzen in Stuttgart-Stammheim, wo damals die
RAF-Prozesse stattfanden, wurde klar, wie überfordert ein
Teil des Staats- und Sicherheitsapparates war. Kontrollierte
man als kleiner Beamter die bekannten Rechtsanwälte zum
x-ten Male, wurde gefragt, ob man zu dumm sei, sie wieder
zu erkennen, kontrollierte man sie nicht, wurde unterstellt,
die Dienstanweisung nicht zu kennen. Außerdem hatte ich
große Probleme, die Medienberichte über Einzelhaft und
Isolationsfolter zu akzeptieren. Ich empfand es zeitweise als
Vorzugsbehandlung von Staatsfeinden.
Zudem denke ich, dass Angst und Hysterie die Situation
nicht einfacher machten, was auch nachvollziehbar ist, weil
es ja im Vorfeld kein vergleichbares Szenario gegeben hatte.
Bei bestimmten Anti-Atomkraft-Demonstrationen, zum
Beispiel in Brokdorf, bin ich zu der Erkenntnis gekommen,
dass der Mensch zu allem fähig ist, wenn er in eine Extrem-
situation gerät – und zwar auf beiden Seiten. Diese Erfah-
rung hat mich nicht mehr losgelassen.
Landeszentrale:
Was für ein Typ Künstler sind Sie? Kom-
mentator? Provokateur?
Kuhnlein:
Ich würde mich als einen Künstler bezeichnen,
der hinterfragend an Politik, Gesellschafts- und Kirchen-
politik interessiert ist, diese auch thematisiert und gleich-
wohl regelmäßig selbstkritisch in den Spiegel schaut. Ob
Letzteres hilft, weiß ich allerdings nicht … Dass Ersteres
nicht jedem gefällt, ist zwangsläufig.
Landeszentrale:
Welche Erfahrungen haben Sie mit Leuten
gemacht, denen Ihre Kunst nicht gefällt?
Kuhnlein:
Mit „gefallen“ ist das so eine Sache, die Geschmä-
cker sind halt verschieden. Wenn aber konstruktive (!) Kritik
kommt, freut mich das, weil es mir die Möglichkeit gibt,
darauf zu reagieren, meine Motivation zu erklären, den
Dialog zu führen und andere Sichtweisen zu erfahren.
Landeszentrale:
Sie leben auf dem Land in Unterwössen, wo im
Gegensatz zur Stadt traditionelle Lebensweisen noch eine große
Rolle spielen. Ist in Unterwössen die Welt „noch in Ordnung?“
Kuhnlein:
Im Gegensatz zu manchen Regionen, wo die
sogenannte „Eventkultur“ Täler und Berge wie ein Tsu-
nami überrollt hat und noch überrollt, sind wir in Unter-
wössen, so denke ich, auf einem guten Weg.
Landeszentrale:
Wie finden Sie das Leben in der Stadt?
Kuhnlein:
Ich fahre sehr gerne in die Stadt, vor allem, weil
es dort ein enormes Angebot an Kunst und Kultur gibt. Ich
bin aber andererseits jedes Mal froh, wieder daheim zu sein!
Landeszentrale:
Wo kommt Ihre Familie her?
Kuhnlein:
Meine Mutter stammt aus einer alten, einheimi-
schen Familie, die Familie meines Vaters aus Oberfranken.
Landeszentrale:
Wie kann man Leuten, die aus einem ganz
anderen Kulturkreis hierher kommen, Bayern erklären?
Kuhnlein:
Wenn ich Besuch aus anderen Kulturkreisen
bekomme, zeige ich den Menschen Bergfriedhöfe, alte
Gasthäuser an historischen Samerwegen, Naturdenkmä-
ler, aber natürlich auch die Errungenschaften der Neuzeit
(Bootsbauer, Segelflug- und Gleitschirmschule amOrt etc.).
Wo ich immer explizit drauf hinweise: Heutiges Oktoberfest
und dieses unerträgliche „Mia-san-Mia“-Gehabe, gerade
anderen Landesteilen gegenüber, hat rein gar nichts mit
dem ursprünglichen Bayernland gemein und ist zeitweise
nur noch peinlich.
„Macht und Vergänglichkeit“