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Kain denk mal – böse

Einsichten und Perspektiven 3 | 15

auf die israelischen Passagiere, war aber in dieser Hin-

sicht nicht konsequent, das heißt, es wurden auch ein-

zelne jüdische Passagiere anderer Nationalitäten als Geisel

zurückbehalten. 

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Aus Sicht der jüdischen Opfer waren

diese Konstellationen irrelevant – die Parallelen zu Ausch-

witz waren einfach unübersehbar. Die Opfer der Entfüh-

rung berichten übereinstimmend, dass Böses Begleiterin

Brigitte Kuhlmann als Entführerin in ein Verhalten gefal-

len ist, das erschreckend an die Wachmannschaften in

den KZs erinnerte. 

34

Böse hingegen blieb – wie auch die

Verfilmungen der Entführung und der Befreiungsaktion

wiedergeben 

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– erstaunlich gelassen und zuweilen sogar

„freundlich“. Ilan Hartuv, dessen Mutter Dora Bloch in

Kampala ermordet wurde, berichtet in der israelischen

Zeitung „Haaretz“ 2011, dass der ehemalige Auschwitz-

Häftling Yitzhak David während der Entführung Böse

seine Tätowierung gezeigt habe. Der Dialog zwischen

Böse und diesem Mann habe wie folgt gelautet: „,Ich habe

mich getäuscht, als ich meinen Kindern erzählt habe,

heute gebe es ein anderes Deutschland. Wenn ich sehe,

was Sie und Ihre Freunde hier Frauen, Kindern und alten

Menschen antun, dann begreife ich, dass sich in Deutsch-

land gar nichts geändert hat.‘ Böse, der bis zu diesem

Zeitpunkt ruhig und entschlossen gewesen war, wurde

bleich und zitterte. ‚Da liegen Sie falsch‘, antwortete er,

‚ich habe in Westdeutschland Terroranschläge verübt, weil

die dortige Führungsschicht Nazis und Reaktionäre in

ihren Dienst genommen hat. Ich weiß außerdem, dass im

September 1970 die Jordanier mehr Palästinenser getötet

haben als die Israelis, ebenso wie die Syrer in Tel al-Zaatar

[eine Schlacht im Jahr 1976, während des libanesischen

Bürgerkriegs, in der libanesische Christen und Syrer Paläs-

tinenser massakriert haben, d.A.]. Meine Freunde und ich

sind hier, um den Palästinensern zu helfen, weil diese die

Unterdrückten sind. Sie sind diejenigen, die leiden.‘ Yitz-

hak David antwortete darauf: ‚Nun, wenn die Palästinen-

ser ihr Versprechen wahr machen und uns ins Meer trei-

ben, werden wir auf Sie zukommen mit der Bitte, uns bei

der Entführung arabischer Flugzeuge zu unterstützen.‘“ 

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Dieser absurd anmutende Dialog verdeutlicht, wie Böse

als radikalisierter Terrorist weiter reichende Dimensionen

seines Verbrechens ausgeblendet hatte.

Böse wurde von den Soldaten des israelischen Befrei-

ungskommandos erschossen. Wann und unter welchen

Umständen dies genau geschah, darüber gibt es – ange-

sichts der Dramatik der Szene verständlich – sehr verschie-

dene Aussagen. Mehrere Zeugen erinnern sich, dass Böse

noch die Chance gehabt habe, vor seinem Tod einige der

Geiseln zu erschießen. Er habe diese Chance aber bewusst

nicht genutzt. 

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Der Titel von Ausstellung und Internetseite: kain

denk mal – böse

Die Ausstellung des Bamberger „Böse“-Projekts trägt den

Titel „kain denk mal – böse“; er war innerhalb des Projekts

Gegenstand kontroverser Diskussionen. Er soll zumNach-

denken anregen, Assoziationen freisetzen, unterschiedlich

interpretiert werden können. Das Wortspiel mit „Denk-

mal“ und dem Namen „Böse“ muss nicht erläutert wer-

den. Dass Böse kein „Dämon“ im Sinn der von Baumann

genannten Dämonisierung war, 

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sondern ein Mensch

wie jeder andere, wird in der Auseinandersetzung mit sei-

ner Geschichte nachvollziehbar. Der Titel wurde angeregt

durch eine aufgewühlte Antwort von Hans-Joachim Klein

im Rahmen einer mit Hilfe des „Spiegel“ übermittelten

Interviewanfrage: Klein distanzierte sich stark von Böse

und dessen Verbrechen und stellte dem Projekt gegenüber

den Verdacht in den Raum, Böse ein Denkmal setzen zu

wollen – angesichts mancher Szenen in RAF-Filmen und

dem Carlos-Film zumindest im Ansatz eine nachvollzieh-

bare Befürchtung.

Warum erscheint es wichtig, sich mit Wilfried Böse zu

beschäftigen? Entebbe war ein einschneidendes, bis heute

schockierendes Ereignis, über das man gerade in Deutsch-

land Bescheid wissen sollte. Und der Weg Wilfried Böses

in den Terrorismus regt zum Nachdenken darüber an, wie

aus einem idealistischen und klugen Jugendlichen, der

offenbar durchaus auch ein gutes Maß an Zivilcourage

besessen hatte, ein Terrorist werden konnte, der durch

seine verheerenden Aktivitäten so viel Schuld auf sich

geladen hat.

33 So Ilan Hartuv in: Yossi Melman: Setting the record straight: Entebbe

was not Auschwitz, in: Haaretz vom 08.07.2011

(www.haaretz.com/week- end/week-s-end/setting-the-record-straight-entebbe-was-not-ausch- witz-1.372131

[Stand: 14.08.2015].

34 Vergleiche die Schilderungen in: William Stevenson (nach dem Material von

Uri Dan): 90 Minuten in Entebbe. Der erste authentische Bericht über die

spektakuläre Rettungsaktion in Uganda, Frankfurt/M. – Berlin – Wien 1976

35 Drei Verfilmungen gibt es, in denen Horst Buchholz, Klaus Kinski und

Helmut Berger den Wilfried Böse verkörpern. Selbst Kinski wirkt überra-

schend wenig unsympathisch.

36 So auch Hartuv in: Melman (wie Anm. 26).

37 So auch Hartuv in: Melman (wie Anm. 26).

38 Marcel Baumann: Schlechthin böse? Tötungslogik und moralische Legiti-

mität von Terrorismus, Wiesbaden 2013, S. 65.