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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
RESULTATE
Eine Sprache wie eine
kristallklar geputzte Fensterscheibe
Laudatio auf Petra Morsbach
zur Verleihung des Jean Paul Preises
Text:
Martin Mosebach
Mit einem Paukenschlag
trat Petra Morsbach
in die deutsche literarische Öffentlichkeit. Jahrelang
hatte sie in Leningrad studiert; nun war aus ihren
Erfahrungen aus der Zeit vor dem Untergang der
Sowjetunion ein Roman geworden, wie es ihn in
unserer Sprache kein zweites Mal gibt. Die Preis-
trägerin möge mir verzeihen, wenn ich nun vor
allem bei diesemBuch, bei »Plötzlich ist es Abend« –
der Titel ist ein Zitat von Quasimodo – verweilen
will, wahrlich nicht, weil ich die späteren Bücher
weniger schätzte, als vielmehr, weil die besondere
Fähigkeit dieser Autorin, ein großes Zeitpanorama
mit einer einzelnen Biographie zu verbinden, bei
»Plötzlich ist es Abend« stärker zur Entfaltung
gelangt als in den späteren Büchern, die den
Focus enger werden lassen und kürzere Zeiträume
erfassen, auch wenn stets in ihnen ein Leben mit
seiner Zeit eng verwoben erscheint.
Ein Freund von mir hat die Forderung aufgestellt,
auf einem guten Portrait müssten auch die Füße
des Modells zu sehen sein – nun, diesemAnspruch
wird Petra Morsbach mit ihrer Ludmilla Semjo-
nowna mehr als gerecht. Für sie ist der eigentli-
che Gegenstand des epischen Erzählens nicht ein
noch so interessanter Plot – das Novellistische,
die raffinierte Konstruktion, das alles mag seine
Berechtigung haben, ist aber für ein richtiges Epos
zu klein – der beste Vorwurf für einen epischen
Roman ist in den Augen der Petra Morsbach eigent-
lich nur ein ganzes Leben, weniger sollte es nicht
sein. Was sich zwischen Geburt und Tod ereignet,
dieses Konkokt aus Zufällen, die immer mehr zu
Notwendigkeiten werden, bis schließlich alle Mühl-
steine auf dem Brett sind, alle Möglichkeiten, die
in einem Schicksal angelegt sind, abgefallen und
nur die klare Skulptur in ihrem So-und-nicht-
anders-Sein übrig bleibt, das ist der Stoff, den sie
bearbeiten will. Ein heiterer Stoff kann das nicht
sein – ein Wort von Gómez Dávila lautet: »Trau-
rig wie eine Biographie.« Aber hier würde Petra
Morsbach vielleicht doch nicht zustimmen wol-
len. Mir will vorkommen, als halte sie nicht viel
von einer Lieblingsvorstellung unserer Zeit, die so
gern vom »Scheitern« spricht – kaum ein Politi-
ker- oder Künstlerleben, das nicht irgendwo »ge-
scheitert« sei. Aber obwohl die Heldin des Russ-
landromans durch Katastrophen und Prüfungen
aller Art, durch Enttäuschungen und Verluste in
den Jahren voranschreiten und oft genug voran-
hasten muss, obwohl ihre Beziehungen zu Män-
nern und Kindern desaströs und höchst schmerz-
haft verlaufen, käme man keinen Augenblick auf
den Gedanken, diese Ljusja als eine Gescheiterte
zu begreifen. Aus Fallen und Aufstehen besteht
ihre Existenz, und diesem Gesetz folgt sie, bis sie
das Ziel erreicht hat. Schicksalsschläge begleiten
dies Leben von seinem Beginn an. Ljusja ist die
Tochter eines bäuerlichen frommen Priesters, der
von Stalin verfolgt und schließlich ermordet wird,
der sich aber stets weigerte, zu Hause von seiner
Lagerhaft zu erzählen, »um die Hölle nicht in die
Familie hineinzulassen.« Sie ist hübsch und lebhaft,
früh interessieren sich die Männer für sie, leider
immer problematische Naturen, die schönen sind
die schlimmsten, halbwahnsinnige und zerstöreri-
sche Bohemiens, später kommen noch ein erotoma-
ner Physiker und ein korrupter Bauunternehmer
dazu. Wir lernen die Lebensbedingungen der Nach-
kriegssowjetunion kennen: sie sind phantastischer
und fremdartiger als das Bagdad aus Tausendund-
einer Nacht. Ein Reich zwischen ewigem Winter-
dunkel und gespenstischer Überhelle der weißen
Nächte, von maßloser und willkürlicher Grau-
samkeit, die auch über unauffällige und geduckte
Existenzen hereinbrechen kann, voll Schieberei
und Korruption, Personnagen von unerklärlichem
und anrüchigem Reichtum, allgegenwärtiger
Bereitschaft zu selbstzerstörerischem Rausch,
Dreck, Elend und hemmungslosem Lebensgenuss.
©
Wolfgang Maria Weber
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