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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
RESULTATE
»Was heißt hier Land?« fragt sich die alternde Ljusja einmal,
»Es ist ein Bordell, ein idiotisches Arbeitslager, ein Irrenhaus,
eine verseuchte Schutthalde, es sei verflucht! Es ist das Land
meines Lebens.« Aber obwohl die Jahrzehnte, die Ljusja und
ihre Familie gleichsam unter Wasser zubringen müssen, in
aller Härte und in atemloser Dichte geschildert werden und
nicht der kleinste Versuch auszumachen ist, irgendetwas zu
verklären und philosophisch zu beruhigen oder zu harmo-
nisieren, entwickelt ebendies Land von Ljusjas Leben eine
überraschende Anziehungskraft. Wie blass und ausgesogen
kommt uns die glücklichere Harmlosigkeit und Sicherheit
der Bundesrepublik während der Lektüre vor – kein Land,
um einen Roman darüber zu schreiben – dass man auch in
diesem aufgeräumten Deutschland Romanstoffe finden kann,
hat Morsbach allerdings reichlich bewiesen. »Wahrscheinlich
mache ich alles falsch«, sagt Ljusja einmal in einem der selte-
nenMomente der Nachdenklichkeit. Das ist ein Schlüsselsatz
in dieser großen Erzählung, denn es spricht viel dafür, dass
diese kraftvolle und liebevolle Frau tatsächlich mit verhäng-
nisvollem Instinkt immer das Falsche tut – aber zugleich
ist der ganze Roman eine Widerlegung dieser Annahme,
denn er zertrümmert planmäßig die Vorstellung, man könne
anderes als das Falsche tun, man könne sich womöglich gar
retten, indem man das Falsche vermeide. Jeder Zustand
besitzt sein eigenes Recht, jeder ist gleich weit von der endgül-
tigen Auflösung der condition humaine entfernt. Man kann
vieles Böse tun, man kann Furchtbares anrichten, aber man
kann im Tiefsten philosophischen Sinn nichts Falsches tun,
denn das Falsche besitzt einen geringeren Grad von Wirk-
lichkeit, das Falsche ist imGrunde das Inexistente, und alles,
was Ljusja tut und anrichtet, ist im höchsten Grade existent.
Morsbach lesend gelangt man zu der Frage: Ist es überhaupt
wünschenswert, dass irgendetwas, das geschehen ist – und
sei es noch so schlimm – nicht geschehen wäre? Würde die
Vollständigkeit der Wirklichkeit nicht einen entscheidenden
Schaden erleiden, wenn das Schlimme aus ihr herausgelöst
würde? Angesichts der geschilderten Verhältnisse mag diese
Frage frivol klingen, denn wir wünschen und hoffen gewiss,
dass das geschilderte verbrecherische System, das Ljusjas
Leben jahrzehntelang bestimmt und das sich in noch etwas
Gemeineres verwandelt, als es an sein Ende gelangt, nicht
etwas Notwendiges und Unabänderliches gewesen sei, wir
ersehnen uns, dass die Menschen nicht grundsätzlich zu
einer Hölle auf Erden verurteilt seien, wenn auch das Para-
dies auf Erden nicht nur nicht wünschenswert ist, sondern
aus der Liste der Wünschbarkeiten grundsätzlich verbannt
sein sollte. Aber das ist eine Leistung der Literatur: dem
geschehenen Bösen eine solche Präsenz, solche Erdenschwere
und Faktizität zu verleihen, dass es nun nie mehr weggedacht
werden kann – mit Lebensneid lesen wir von Verhältnissen,
in denen wir nicht leben wollen, und die uns doch durchblu-
teter, erfüllter und kraftvoller vorkommen als die kommode
Schonung, die bei allem Lebenskampf im Einzelnen unsere
gesamte Existenz nun einmal umgibt – wir haben uns daran
gewöhnt, unsere Zustände als unser gutes Recht anzusehen –
nun, Ljusja lacht gern, wie laut hätte sie bei einer solchen
Vorstellung aufgelacht.
»Ich mag die
neue Zeit nicht – ich mag auch die alte Zeit
nicht – der Mensch ist ein heilloses Wesen« – das ist Ljusjas
Resumee, als in der Gorbatschow-Ära die neue Verkommen-
heit sich mit der alten zu einem besonders giftigen Amalgam
verbindet. Aber das heißt nicht, dass es in ihrem Leben keine
Entwicklungen gegeben hätte. Bedrohung, Hunger, Kälte,
die Gemeinheit der Männer und die Gefühlskälte der Kinder
sind eine Schicksalsschmiede, in der der Mensch zurechtge-
hämmert wird. Viele überstehen solche Behandlung nicht,
versinken in Alkoholismus, Geisteskrankheit und Verküm-
merung, aber Ljusja ist aus härteremMaterial – jeder Schlag
formt sie so präzis wie der Hammer des Silberschmieds, der
eine schöne Schale treibt. Nichts wird dadurch besser, und
schon gar nicht gut, aber die Persönlichkeit, die sich aus der
haltlosen Popentochter herausbildet, nimmt feste Kontur
an. Heimtückische Bürokraten, brutale Wachmannschaften,
betrügerische Geschäftsleute haben vor ihr auf der Acht zu
sein. Ihre Zornausbrüche gegenüber solchen Feinden sind
das große Labsal des Buches, fast könnte man vermuten,
dass Morsbach uns hier Augenblicke des Aufatmens gewäh­
ren wollte, so erleichternd sind diese Augenblicke der Wahr-
heit, und so komisch ist es zu erleben, wie jedes Mal die
Apparatschiks und die Erpresser zurückweichen, als hätte
ein japanisches Geisterschwert die Lüfte zerteilt und die
Atmosphäre vom Satansgestank gereinigt. Aber ich glaube
ihr, dass sie hier nichts beschönigt hat, sondern dass sich die
Beobachtung bestätigte, dass der Mensch, der nichts zu ver-
lieren hat, weil er ganz unten gelandet ist, eine Furchtlosig-
keit zu erwerben vermag, die dem die Waffen aus der Hand
schlägt, der mit der Furcht herrschen will. So bekommt der
Offizier im Arbeitslager, der Ljusjas Mann die 200 Gramm
Milch in der Woche verweigert, zu hören: »Sie haben keine
Milch, weil sie das Vieh getötet haben. Sie haben das Vieh
getötet, weil sie kein Futter hatten. Sie hatten kein Futter,
weil sie die Ernte haben verkommen lassen. Und Sie reden
von harten Zeiten? Ihr müsst lernen, mit eurer Erde umzu-
gehen, statt immerzu Lager zu bauen!« Aber so erleichternd
ein solches Gewitter auch ist – die Dissidenten, die aktiven
Gegner des Sowjetsystems, mit denen Ljusja zu tun hat,
sind gleichfalls fragwürdige Gestalten: Wahnsinnige und
Geschäftemacher, die die Helsinki-Fonds ausbeuten und
durch die Schrecken der Straflager vielleicht entschuldigt,
aber sicher nicht veredelt worden sind.
Die Romane der Petra Morsbach gehören der Gattung des
Realismus an, nichts ist einfacher festzustellen. Sie ist Roman-
autorin nach dem Vorbild Emile Zolas, der für seine Bücher
umfangreiche Recherchen anstellte und für den Roman »Ger-
minal« etwa monatelang in eines der trostlosen Bergarbeiter-
dörfer Nordfrankreichs zog. Was Petra Morsbach beschreibt,
das hat sie gesehen, dem ist sie gar hinterhergestiegen. Es
muss ein Riesenmaterial sein, aus dem sie ihre Erzählungen
gewinnt. Sie ist eine Autorin, die sich keinen Satz gestattet,
der nicht ein sprechendes, sinnlich erfahrbares Detail trans-
portiert. Wenn man sie liest, glaubt man, dass es ihr einzig
um die Übermittlung solcher Fakten gehe. Man vermutet als
Leser, dass sie beim Wort genommen werden will; sie stellt
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