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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
RESULTATE
eine Atmosphäre her, die der Nachprüfung standhalten will.
Deshalb findet man bei ihr sehr wenig von dem, was nach
landläufiger Überzeugung »literarisch« genannt zu werden
beanspruchen dürfte: gemeint ist sprachlicher Stimmungs-
zauber, Vorführung von Virtuosität, expressionistischem
großem Kino, von Sprachexperiment und Sprachspielerei,
von Schönschreiberei und Hässlich-Schreiberei, man findet
nichts von dem, was Borges »die Erfindung eines eigenen
eitlen kleinen Dialekts im Sprachganzen« genannt hat. Aber
wenn man ihre Sprache als »nüchtern und sachlich« kate-
gorisieren wollte, dann müsste man sich doch fragen lassen,
warum das, was wir gewöhnt sind, als die angeblich nüch-
terne und sachliche Sprache der politischen Kommentatoren
und der Wirtschaftsfachleute, der Ingenieure und Juristen
hinzunehmen, sich so stark von der Prosa der Petra Mors-
bach unterscheidet. Eine strenge Reinheit bestimmt ihre
Sprache, die, wie Karl Kraus es getan hat, Sprachschluderei,
Geschmacklosigkeit und Sprachverhunzung als Anfang der
Lüge begreift. Ihre Sprache will wie eine kristallklar geputzte
Fensterscheibe den Ausblick auf das eröffnen, was sie
beschreibt. Vergesst den Autor, sagt uns Petra Morsbach,
nähert euch mit dem Gesicht dieser Glasscheibe, die unver-
sehens Lupenqualität offenbart, und lasst euch von demBild
dahinter anziehen und in Besitz nehmen. Indem ihr den Blick
von euch selbst abwendet und diese von mir in bildträchtige
Wörter gebannte Szenerie in euch aufnehmt, erfahrt ihr
etwas über jene Wirklichkeit eurer Existenz, die euch in
eurem Alltag immer zu entgleiten droht.
Und es ist
ja nicht so, dass die Sprache der Morsbach, diese
wie unter enormem Zeitdruck zusammengepressten Informa-
tionen – man denkt unwillkürlich an die gedrängten Mittei-
lungen eines Strafgefangenen während allzu knapp bemes-
sener Besuchszeit – diese gegenüber jedem Effekt scheinbar
so gleichgültige, von lyrischen Ballaststoffen vollständig freie
Fakten-Prosa deswegen auch ohne ästhetische Wirkung bliebe.
Die Freiheit von Schmelz und Schmalz, verbunden mit dem
niemals nachlassenden untergründigen Druck, versetzt den
Leser wie in die Kapsel einer Rohrpostanlage; er schießt durch
die detailliert ausgebreiteten Leben hindurch, er empfindet
die Details als Beschleuniger, er will immer mehr davon,
er will in den von Morsbach zusammengebrachten Fakten
ertrinken. Es entsteht eine Art von gespannter Monotonie
wie beim Herzschlag – zumal der eigene wird uns niemals
langweilen können, im Gegenteil, denn solange er andauert,
leben wir. So ist die Morsbach-Prosa denn nichts anderes
als buchstäbliche Lebensnachahmung, dies Verschlingen
von Nahrung, das nicht enden darf, bis der Tod eintritt, dies
unablässige Verwandeln von Material aller Art in Ener-
gie, bei dem jedes Verweilen und Innehalten mit höchster
Lebensbedrohung verbunden wäre. Man kann einen Mors-
bach-Roman, der sich stets genau erforschten Milieus
annimmt, der uns in den Organismus eines Opernhauses, in
die Frustrationen zeitgenössischer Seelsorge, in die Höhen
und Tiefen einer modernen Virtuosenexistenz, in die Sow-
jetunion zwischen Stalin und Gorbatschow mitnimmt und
uns dabei nachprüfbare und welterschließende Kenntnisse
vermittelt – man kann einen solchen Roman eben auch ganz
anders, als Bewusstmachung des schieren Lebensprozesses
lesen – Leben ist immer konkret, es gibt – außer in Gott –
kein Leben an sich, aber jedes dieser konkreten Leben folgt
eben diesem Rhythmus von immer neuem Aufnehmen, von
Verschlingen und Von-sich-Geben, von Vorandrängen, von
immer neuen Hürden-Nehmen, von Keuchen und Rennen,
von Zusammenbrechen und Sich-wieder-Aufrappeln, alles
dem Ziel entgegen: der Auflösung, wie der Apostel Paulus
es nennt, dem Tod, der lange Zeit so unendlich schwer
zu erreichen scheint und der dann unerwartet doch plötz-
lich da ist.
Ich sagte, dass die Sprache der Petra Morsbach in ihrer harten
Durchsichtigkeit den Blick des Lesers auf das Ereignis selbst
lenkt – Petra Morsbach gebe es in ihren Texten nicht. Das ist
richtig – bis auf Ausnahmen, die sehr selten sind, dann aber so
explosiv wirken, dass sie den Eindruck des gesamtenWerkes
bestimmen. So schildert sie zumBeispiel einen unglücklichen
Halbwüchsigen, der seiner geisteskranken aggressiven Mut-
ter ausgeliefert ist, der nur ein paar Kleider zusammenrafft
und ohne Strümpfe im Winter aus dem Haus läuft, und sie
schließt – völlig überraschend diese Szene mit der Bemer-
kung: »In keinem Klassiker steht so was geschrieben« – da
ist die Autorin von ihrer eigenen Geschichte so erschüttert,
dass sie nach Worten ringt. Vielleicht stimmt der Satz nicht
ganz – wir haben immerhin im »Faust« Gretchen imKerker
und wir habenWoyzeck und Stifters »Turmalin« als Beispiele
der Schilderung eines Unglücks von gleichsam sprachlosen,
namenlosen armen Menschen – und doch, ein Maßstab tut
sich auf: es darf für Literatur keine Begrenzung dessen geben,
was wert ist, beschrieben zu werden; der Roman »Plötzlich
ist es Abend« erhält seine moralische Berechtigung gerade
auch dadurch, dass die Verzweiflung des kleinen Paschenka
darin aufgehoben ist.
Aber noch viel
eindrucksvoller und fruchtbar-verwir-
render ist ein anderer Satz, mitten in der Schilderung schier
unerträglicher Kalamitäten. Hier macht Petra Morsbach
etwas, das vor ihr, so behaupte ich, wahrlich noch niemand
getan hat – sie hebt mit einem in Klammern gesetzten Satz
ihr ganzes Buch aus den Angeln. Da steht nämlich, zu meiner
auch jetzt noch nicht überwundenen Verblüffung die Frage:
»Vielleicht war alles gar nicht so schlimm?«Wie soll man die
Wirkung dieses Satzes beschreiben? Er dementiert nicht das
Beschriebene, er will es nicht verkleinern. Er unternimmt
etwas anderes: er kappt die Seile, mit denen der Roman auf
der Erde festgehalten wurde, und nun beginnt er zu schwe-
ben. In der Atemlosigkeit der Faktenanhäufung ergibt sich
eine Insel der Meditation, in dem still-heiteren Verweilen in
einer Skepsis, die vor allem dem eigenen Urteilsvermögen gilt.
Allein für die Erfindung dieses Satzes hätte Petra Morsbach
schon einen großen Literaturpreis verdient.
Martin Mosebach
ist vielfach, u. a. mit dem Georg-Büchner-
Preis ausgezeichneter Schriftsteller.
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