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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
Colloquium
gehäuse steht der Sänger Orpheus, der auf einer Lyra spielt.
In dem Sockelrelief besänftigt Orpheus mit seiner Musik den
Höllenhund Zerberus. So verschaffte er sich nämlich Zugang
zur Unterwelt, um seine verstorbene Gattin Eurydike zurück
unter die Lebenden zu bringen. Dies misslang schließlich,
und somit knüpfen die Darstellungen von Liebe, vergebli-
chem Verlangen und bitterem Abschied an die Themen von
früheren Uhren an.
Private Schenkungen:
Ernst von Bassermann-Jordan
Unter den bedeutenden Sammlern und Stiftern, die die Uhren­
sammlung des Museums mehrten, stach besonders Ernst
von Bassermann-Jordan (1876-1932) hervor. Der Sohn eines
Pfälzer Weingutbesitzers und spätere Professor für Kunst­
geschichte in München legte bereits 1905 ein Standardwerk
zur Geschichte der Räderuhr und speziell zu den Werken
unseres Museums vor. Über lange Jahre beriet er die Direk­
tion über Ankäufe imBereich der Uhren, und schließlich ver-
machte er demMuseum seine rund 300 Objekte umfassende
Sammlung an Uhren und wissenschaftlichen Instrumenten.
Das grösste Werk
des Vermächtnisses ist eine voll-
kommen einzigartige astronomische Prunkuhr des Wiener
Augustiner-Barfüßer-Paters Aurelius a San Daniele von
1770/71, die vormals in der Zisterzienserabtei Salem stand.
Bemerkenswert ist bereits das Gehäuse, das von virtuos
geschnitzten Putten bevölkert wird, die mit den zwölf Tier-
kreiszeichen spielen. Zu den etwa 30 verschiedenen Indika-
tionen dieser Uhr zählen diverse Varianten der Uhrzeit, die
Mondphase, die Tages- und Nachtlänge, der Kalender und
der Himmelsglobus, denen ein kompliziertes Räderwerk
zugrunde liegt. Aurelius gehörte zu einer kleinen Gruppe
von sogenannten Priestermechanikern, die vor dem kul-
turellen Hintergrund ihrer Klöster und im Austausch mit
anderen Uhrmachern wahre Wunderwerke der Feinmecha-
nik produzierten.
Bassermann-Jordan konnte zudem verschiedene, von pri-
vater Hand zusammengetragene Uhrensammlungen an das
Museum binden. Kurios erscheinen die zahlreichen Taschen-
uhrwerke des 18. und 19. Jahrhunderts, die in einem Akt
der Verstümmelung ihren Gehäusen zu unbekanntem Zeit-
punkt entrissen wurden, sicher um diese separat zu Geld zu
machen. Die Uhrwerke sind mit dem meist eher schlichten
Zifferblatt nach unten auf runde Holzsockel montiert, so
dass die stets reicher ornamentierte und vom Uhrmacher
signierte Unterseite der Werke zu sehen ist. Da sich breite
Besuchermassen kaum je dafür interessieren dürften, ruhen
diese Werke wie aufgespießte Schmetterlinge in Schubladen
im Depot des Museums.
Bassermann-Jordan sammelte
freilich nicht nur
historische Uhren, sondern nützte auch zeitgenössische. Ein
Prunkstück darunter ist eine Taschenuhr von A. Lange &
Söhne im sächsischen Glashütte, genauer eine »Grande Com-
plication«, die komplizierteste, also mit den meisten Funk-
tionen versehene Uhr dieses Herstellers. Insgesamt wurden
zwischen 1901 und 1928 nur neun Exemplare dieses Typs
gefertigt, und Bassermann-Jordan hat seine Taschenuhr
zwölf Jahre voller Genugtuung getragen. Er berichtete sel-
ber: »Sie funktioniert fehlerlos, auch auf das Kalenderwerk
konnte ich mich felsenfest verlassen. Die Minutenrepetition
hat mir imDunkel des Kinos auf Verlangen die Zeit gemeldet,
das Selbstschlagwerk in nächtlichen fremden Hotelzimmern
den Zusammenhang mit dem ersehntenMorgen hergestellt«.
Eine Turmuhr auf Wanderschaft
Eine Uhr mit bewegter Geschichte kam zuletzt 2012 ins
Haus, genauer eine Turmuhr des bedeutenden Münchner
Herstellers JohannMannhardt: Sie befand sich imUhrturm
des Königlichen Landgestüts Erding, das 1903 neu errichtet
und 1923 aufgelöst wurde. Kurz vor Ende des Zweiten Welt-
kriegs rückten Truppen der U.S. Army in Erding ein. In den
teilweise beschädigten und einsturzgefährdeten Bauten des
ehemaligen Gestüts entdeckte einer der Soldaten die Turm-
uhr und erkannte ihrenWert. Um das Kunstwerk vor der Zer-
störung zu bewahren, demontierte er die Uhr und schickte
sie sicher verpackt in seine Heimat im Bundesstaat Pennsyl-
vania. Er ergänzte die fehlenden Gewichte und Glocken und
stellte das Werk funktionstüchtig in seinem Wohnhaus auf.
Nach seinem Tod 2011 überließ er das Stück dem National
Watch and Clock Museum in Columbia, Pennsylvania, das
nach einem geeigneten neuen Eigentümer am Ursprungs-
ort der Uhr Ausschau hielt, wodurch das Werk 2012 nach
Bayern zurückkehrte.
Verwiesen sei zuletzt
auf die Turmuhren am Bayeri-
schen Nationalmuseum selbst: An der West- und der Ostseite
des Turms leuchten vergoldete Zifferblätter, an der Südseite
hoch über demHauptportal befinden sich zudem eine große
Sonnenuhr sowie eine Kugel für die Mondphasen. Wichti-
ger noch als die reine Anzeige der Zeit erscheint jedoch die
dekorative Wirkung, die die farbigen Mosaiken mit verschie-
denen Himmelskörpern und ein goldener Hahn erzielen – das
Ensemble der Uhren am Turm gleicht einem bekrönenden
Juwel über dem ganzen Museum.
Dr. Raphael Beuing
ist seit Februar 2012 Referent für Waffen,
Uhren, wissenschaftliche Instrumente und unedle Metalle
am Bayerischen Nationalmuseum sowie Referent für das Zweig-
museum Fürstliche Schatzkammer Thurn und Taxis in
Regensburg. Zuvor war er für jeweils einige Jahre am
Historischen Museum Basel und an der Schatzkammer des
Deutschen Ordens in Wien tätig.
Zum Weiterlesen:
Ernst von Bassermann-Jordan: Die Geschichte der Räderuhr
unter besonderer Berücksichtigung der Uhren des Bayerischen
Nationalmuseums, Frankfurt am Main 1905.
Klaus Maurice: Die deutsche Räderuhr. Zur Kunst und Technik
des mechanischen Zeitmessers im deutschen Sprachraum,
2 Bde., München 1976.
Lorenz Seelig: Uhren und wissenschaftliche Instrumente, in:
Das Bayerische Nationalmuseum 1855-2005. 150 Jahre
Sammeln, Forschen, Ausstellen, hg. von Renate Eikelmann und
Ingolf Bauer, München 2006, S. 433–447.
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