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ln unseren Tagen beruft man sich da–

bei nicht nur auf subjektives Empfin–

den, sondern untermauert einen sol–

chen Aufsch rei mit den Ergebnissen

von einsch lägigen Umfragen und

Untersuchungen. Man belegt, daß

viele Schüler beispielsweise gravie–

rende Mängel in der Orthographie

und im Rechnen besitzen, und weist

nach , daß die Disziplin in den Klas–

senzimmern sehr zu wünschen übrig

läßt. Aus dem Vergleich mit früheren

Ergebnissen wird dann nicht selten

versucht, eine eindeutig negative

Tendenz herauszulesen.

Was nun die Leistungsfähigkeit

und den Wissensstand der jungen

Leute angeht, so hat der Erziehungs–

wissenschaftler Karlheinz lngenkamp

vor einigen Jahren an die 40 solcher

Studien einmal genauer unter die Lu–

pe genommen. Er kommt dabei zu

dem Schluß, daß sie aufgrund metho–

discher Fehler kaum modernen wis–

senschaftlichen · Ansprüchen genü–

gen. Einen Beweis für eine generelle

Leistungsverschlechterung stellen sie

daher auf gar keinen Fall dar.

Den Hauptgrund für die beständi–

ge Kritik sieht der Pädagoge in einem

Verklärungseffekt, durch den die

Vergangenheit positiver und die Zu-

FRAGLICHER VERGLEICH

kunft kritischer und skeptischer gese–

hen wird. So verschwimmen Erinne–

rungen über die eigenen Schullei–

stungen, und das Wissen, das man

erst in späteren Jahren erworben hat,

wird unbewußt hinzuaddiert; eine

Rolle spielt auch, daß früher zum Teil

andere Dinge gelernt wurden als

heute und dadurch ein direkter Ver–

gleich nicht mög lich ist.

Und wie steht es mit der Disziplin

der heutigen Schüler? " Auch hier ist

ein Verg leich mit früheren Zeiten äu–

ßerst fragwürdig" , stellt der Nürn–

berger Psychologieprofessor Hanns–

Dietrich Dann fest. " Um über eine

Zu- oder Abnahme von Aggressio–

nen und Störungen im Unterricht eine

objektive Aussage treffen zu können,

müßte dieselbe Erhebung in Abstän–

c:Jen von einigen Jahren wiederho lt

vorgenommen werden. "

Unter seiner Leitung führte man im

letzten Schu ljahr an mittelfränkischen

Grund- und Hauptschulen zu diesem

Thema eine empirische Untersu–

chung durch, woran sich über 140

Lehrkräfte beteiligten. Das Ergebn is

liefert allerdings keinen Stoff fü r

spektakuläre Sensationsmeldungen.

Die Erhebungen ergaben nämlich,

daß gravierende Aggressionen und

Störungen keinesfalls die Regel sind.

" Es wäre zwar nun falsch , von einer

heilen Weit an unseren Schulen zu

sprechen. Daß es an ihnen aber eine

Eskalation der Gewalt gibt, wie in

den Medien gerne behauptet w ird,

dafür findet sich in unserem Daten–

materia l keine Grundlage", betont

Professor Dann. Er fügt jedoch hinzu,

daß die Unterschiede zwischen ver–

schiedenen Klassen, Schulen und

Lehrkräften erheblich seien und die

Situation in M illionenstädten eigens

untersucht werden müßte.

Wie schwierig es insgesamt ist, das

Die Meinungen

darüber,

wo das

altersbedi~gte

Austoben

aufhört

und die Gewalt

anfängt,

gehen zum Teil

weit

auseinander.

Phänomen ,Gewalt' in diesem Zu–

sammenhang exakt zu beschreiben,

sieht man z. B. daran, daß heute die

Auffassungen darüber, wo der

Streich oder das altersbedingte Aus–

toben aufhören und ·die Gewalt an–

fängt, mitunter weit auseinanderge–

hen. Daß das Kultusministerium die–

ses Problem aber ernst nimmt, zeigen

unter anderem die staatlichen Fort–

bildungsveranstaltungen für Lehrer,

bei denen das Thema " Gefährdun–

gen der Jugend, und wie man ihnen

mit erzieherischen Mitteln begegnen

kann " zu einem Schwerpunkt im Pro–

grammongebot gemacht wurde.

Auch wenn hier nicht verharmlost

werden soll , so hilft zur Beurteilung

der Frage, ob das Aggressionspo–

tential früher größer war als heute,

vielleicht noch einmal ein Blick zu–

rück - etwa in die Aufzeichnungen

des Schulmeisters Jakob Häuberle

aus dem 18. Jahrhundert. Täglich no–

tierte der schwäbische Volksschulleh–

rer die Strafen, die er in der Schule

verhängte. ln seinem 50jährigen Wir–

ken ergab sich dabei folgendes Stra–

fenregister: " 911 527 Stockschläge,

124010 Ruthenhiebe . ..,

136715

Handschmisse, 10235 Maulschellen,

7905 Ohrfeigen, 1115800 Kopfnüsse

und 22763 Notabenes mit Bibel, Kate–

chismus, Gesangbuch und Gramma–

tik." Darüber hinaus ließ er 777 mal

Knaben auf Erbsen knien, 613 auf ein

dreieckiges Holz, und 1707 mußten

als Strafe die Rute hochhalten.

Wenngleich sich Moralvorstellun–

gen und Erziehungsstil inzwischen

grundlegend geändert haben, so

darf man aus dieser beeindrucken–

den Auflistung doch Schlüsse ziehen,

wie es damals um die Disziplin be–

stellt gewesen sein muß. Allerd ings

wird man mit einem lapidaren "Alles

schon einmal dagewesen " wohl nie–

mandem nützen. Viel sinnvoller wä re

es zu fragen, was jeder dazu tun

kann, daß unsere Schuljugend zu ei–

ner Generation heranwächst, für die

Gewalt kein Mittel zur Lösung von

Konflikten ist. Gefordert sind hier

nicht nur die Schulverwaltung und die

Lehrer, sondern vor allem auch Eitern

und Schüler. Nur wenn alle sich be–

wußt machen, wie sie im großen und

im kleinen, innerhalb und außerhalb

der Schule miteinander umgehen,

könneri wir erreichen, daß das Kla–

gelied vom aggressiven und lei–

stungsunwilligen Schüler, wenn es

schon nicht gänzlich verstummen will,

wenigstens leiser gesungen wird.

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