Table of Contents Table of Contents
Previous Page  11 / 48 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 11 / 48 Next Page
Page Background

11

Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 15

Begegnungen, die verändern

wir in geschliffenem Deutsch und mit nicht zu erahnen-

der Herzlichkeit von den Zeitzeugen empfangen. Unsere

Gastgeber gaben uns das Gefühl, wirklich willkommen zu

sein. Keinerlei Anzeichen von Distanz oder Zurückhal-

tung. Zu unserem Erstaunen versammelten sich im Lauf

der Zeit immer mehr Bewohner um uns, allesamt Zeit-

zeugen und Überlebende des NS-Terrors, die an uns und

unserem Projekt interessiert waren.

Doch auch der Umgang unserer Schülerinnen und

Schüler mit den Gesprächspartnern machte uns in den

folgenden Begegnungen sprachlos: Mit großem Interesse

traten sie ihren Interviewpartnern entgegen, informiert

und zurückhaltend sorgten sie, dies wurde im Anschluss

von den Zeitzeugen versichert, für eine angemessene

Gesprächsatmosphäre. So ergaben sich viele eindringliche

und intensive Gespräche, die uns mit sehr unterschied-

lichen Biographien die einzelnen Phasen der Judenverfol-

gung vor Augen führten: Die Demütigungen und Ausgren-

zungen schon in der Weimarer Republik, die Ausbrüche

physischer Gewalt mit dem Höhepunkt des Reichskris-

tallnachtpogroms 1938, die man, das betonten nahezu

alle Zeitzeugen, einem „Kulturvolk“ wie den Deutschen

nicht zugetraut hätte, und die folgenden unvorstellbaren

Schrecken und Gräueltaten des Völkermords.

Der direkte persönliche Kontakt zwischen den Jugend-

lichen und den Zeitzeugen, die zur Zeit des „Dritten

Reiches“ im gleichen Alter waren, führte zu einer starken

emotionalen Verbindung: So sprachen einige Bewohner

das erste Mal seit 1945 mit Deutschen auf Deutsch über

ihre Schicksale. Nicht alle Gespräche liegen hier gedruckt

vor, manche Interviewpartner entschieden sich im Nach-

hinein auch gegen eine (namentliche) Veröffentlichung.

Die Gespräche mit ihnen sollten privat bleiben.

Geschichte wurde auf einmal konkret und sehr per-

sönlich: Wir konnten die Ungerechtigkeit, Grausamkeit,

Willkür erahnen – und gleichzeitig wurde uns klar, dass

kein Film, kein Buch einen solchen emotionalen Erkennt-

nisprozess bewirken konnte wie diese Gespräche und

Erzählungen.

Nach den Tagen im Altenheim, gemeinsamen Mittages-

sen und intensiven Gesprächen fiel uns der Abschied nicht

leicht, zu eindringlich war das, was wir hier gehört hatten.

In sehr langen Diskussionen tauschten wir uns im

Anschluss über unsere Erfahrungen aus, teilweise dauert

dieser Prozess heute noch an. Es waren Begegnungen, die

uns verändert haben. Begegnungen, die uns manchmal

auch ein wenig ratlos zurückließen, wie die folgenden

Reflexionen einer Schülerin, Franziska Schwendner, zei-

gen:

Trifft uns Schuld?

„Trifft uns Schuld? Nein. Wir sollen keine Schuldgefühle

haben, sagt unser Lehrer. Uns trifft keine Schuld mehr.

Doch wenn mir die Zeitzeugen beim Interview erzählen,

dass sie auch heute noch jede Nacht Albträume haben und

von ihren Erinnerungen eingeholt werden, da fühle ich:

Etwas lastet schwer auf mir. Ich fühle mich dafür verant-

wortlich, dass unsere Zeitzeugen wegen meiner Vorfahren

nachts nicht schlafen können. Das hört sich wahrschein-

lich verrückt an. Bin ich verantwortlich für die Taten

meiner Großeltern und Urgroßeltern? Mich trifft keine

Schuld, sagen meine Eltern und Lehrer.

Doch dann beim Mittagessen sitze ich Frau Morelen-

baum gegenüber, die jeden Tag Tabletten nehmen muss,

damit sie nicht weint. Eine Frau, die den Teufel im Men-

schen erlebt hat. Sie war in Auschwitz und hat Dinge gese-

hen, von denen sie jetzt nachts träumt. Sie hat gesehen,

wie ein Deutscher einen Säugling vor den Augen seiner

Mutter in die Luft geworfen und erschossen hat. Sie hat

die Freude in den Augen des Deutschen gesehen, als er

getroffen hat. Und jetzt sitze ich dieser Frau gegenüber

und sie erzählt mir davon, dass sie weiß, dass uns, die

junge deutsche Generation, keine Schuld mehr trifft. Sie

würde uns gerne verzeihen. Doch dann meint sie offen

und direkt, dass sie das nicht kann. Denn die Kinder in

Auschwitz waren auch vollkommen schuldlos und wur-

den trotzdem von den Deutschen umgebracht. Ich weiß

nicht mehr, was ich sagen soll. Das Essen liegt plötzlich

schwer in meinem Bauch und ich habe keinen Hunger

mehr. Ich spüre Reue und würde mich am liebsten für

all das entschuldigen, was Frau Morelenbaum widerfahren

ist. Doch mich trifft ja keine Schuld. Das haben meine

Eltern, die Lehrer und Frau Morelenbaum gesagt.“

Ein Ergebnis der Begegnungen ist die vorliegende Samm-

lung der Interviews. Leser werden aus diesen Gesprä-

chen vielleicht nur wenige neue historische Erkenntnisse

gewinnen. Und trotzdem, das spiegelt unsere Erfahrung

aus dieser Fahrt wider, sind sie es wert, gelesen zu werden.

Denn noch immer hat jedes einzelne dieser erschüttern-

den Schicksale das Recht, gehört zu werden. Und es ist

noch immer unsere Verantwortung, aufmerksam zuzuhö-

ren und daran zu erinnern.