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Toni Pfülf (1877–1933)

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

„Dass ihr alle zusammen und die große Partei nicht

versucht habt, auf jede Gefahr hin Widerstand zu

leisten, das kann ich nicht ertragen.“

Statt zur Sitzung zu gehen, steigt Toni Pfülf in den Zug

und fährt zurück nach München. Sie kann es nicht ver-

winden, dass ihre Parteifreunde sich so instrumentalisie-

ren lassen, sich dafür hergeben, Hitler den Anschein der

Legitimität zu verschaffen. Auf der Fahrt versucht sie sich

mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen. Doch sie wird

rechtzeitig aufgefunden und ins Krankenhaus gebracht.

Josef Felder besucht sie kurz darauf daheim in ihrem

Münchner Zimmer in der Kaulbachstraße 12 in Schwa-

bing. Er gibt später folgende Worte von ihr wieder: „Hier

sind die Tabletten. Noch ist es nicht gelungen. Wenn ihr

noch einmal nach Berlin geht, bin ich nicht mehr unter

euch. Ich kann nicht in diesem Staate leben. Wenn ich

jetzt als Beamtin, als Volksschullehrerin, herausgeschmis-

sen werde, was sowieso kommt, das wäre gleichgültig.

Und wenn ich die Straßen kehren müßte. Das ist es nicht.

Die Existenzfrage ist es nicht. Aber daß viereinhalb Milli-

onen freie Gewerkschafter und die christlichen Organisa-

tionen, daß ihr alle zusammen und die große Partei nicht

versucht habt, auf jede Gefahr hin Widerstand zu leisten,

das kann ich nicht ertragen. Das kann ich nicht ertragen.

Und jetzt habt ihr auch zugestimmt am 17. Mai. Nein!

Wenn ihr nochmals nach Berlin geht, bin ich nicht mehr

unter euch.“ 

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Auch Paul Löbe berichtet von seinem Besuch bei ihr in

München, in Begleitung der Abgeordneten Louise Schrö-

der. „Gemeinsam mit Frau Schroeder redeten wir ihr gütig

zu, von ihrem Vorhaben abzulassen, sie lehnte dies jedoch

ruhig und fest ab, teilte in unserer Gegenwart ihre geringe

Habe für Verwandte und Bekannte auf und noch am glei-

chen Abend wiederholte sie die Tat, durch Vergiftung aus

dem Leben zu scheiden.“ 

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Toni Pfülf schreibt mehrere Abschiedsbriefe, so auch

an die Frauenrechtlerin Tony Drevermann in Küßnacht,

die Frau des SPD-Politikers Rudolf Breitscheid. Sie selbst

hatte das Ehepaar Ende März in die Schweiz gebracht, war

anschließend jedoch, statt im Ausland zu bleiben, wieder

nach Deutschland zurückgekehrt. Flucht war ihre Sache

nicht. Auf ihren ersten Versuch der Selbsttötung anspie-

lend schreibt sie der Freundin zum Abschied: „Durch das

Eisenbahnmalheur neulich ist meine Reise nach Hause

verzögert worden. Ich trete sie heute an. Hoffentlich

komme ich ans Ziel. Freilich – es ist ein wenig untreu

gegen Euch alle. Seid nicht böse und seht es nicht als

Flucht an, was es auch nicht ist …“ 

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Am Abend des 8. Juni 1933 nimmt Toni Pfülf sich das

Leben. Die letzte Fraktionssitzung der SPD vor dem end-

gültigen Verbot der Partei findet zwei Tage später statt.

Paul Löbe eröffnet die Sitzung mit einem Nachruf auf

Toni Pfülf. Bei ihrer Einäscherung auf dem Münchner

Ostfriedhof am 12. Juni waren viele hundert Münchner

Parteigenossen anwesend, berichtet Hoegner.

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Paul Löbe

erinnert sich dagegen, es seien nur wenige Menschen

gewesen.

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Gedenken an eine Frau, die ihre Zeitgenossen an

Weitsicht und Mut überragte

Kein Zweifel, Toni Pfülf überragte so manchen ihrer Zeit-

genossen an Weitsicht und analytischer Klugheit, an Mut

und Willenskraft. In München und andernorts gibt es

verschiedene Gedenkformen, die die Erinnerung an diese

außerordentliche Persönlichkeit lebendig halten, so etwa

39 Felder (wie Anm. 33), S. 146

40 Paul Löbe: Brief an Walter Hammer vom 3.7.1954, NL Hammer (wie Anm. 12)

ED 106/35–256

41 Toni Pfülf: Brief an Tony Breitscheid, ms. Abschrift aus dem „Neuen Vor-

wärts“ vom 18. Juni 1933, NL Hammer (wie Anm. 12) ED 106/55–121.

42 Hoegner (wie Anm. 37), S. 156.

43 Paul Löbe: Brief an Walter Hammer vom 29.7.1954, NL Hammer (wie

Anm. 13) ED 106/35-257.

Kaulbachstraße 12 in München-Schwabing. Im Erdgeschoss dieses Hauses

bewohnte Toni Pfülf eine Einzimmerwohnung. Hier nahm sie sich am 8. Juni

1933 das Leben.

Foto: Heike Mayer