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Toni Pfülf (1877–1933)

Einsichten und Perspektiven 2 | 17

Gleichberechtigung“.

29

Die Westmächte, die wegen der

Militärverbände SA und SS Sanktionen gemäß Versailler

Vertrag gegen das Deutsche Reich in Betracht ziehen, sol-

len damit beschwichtigt werden. Hitler führt in seiner Rede

im Parlament aus, dass der „wirkliche Zweck dieser natio­

nalen Organisationen“ die Terrorabwehr wäre. Allein die

SS und SA hätten durch „kommunistische Mordüberfälle,

Attentate und Terrorakte in wenigen Jahren über 350 Tote

und gegen 40.000 Verletzte zu beklagen“.

30

Er beteuert, es

wäre „der tiefernste Wunsch der nationalen Regierung des

Deutschen Reiches“, neue Kriege und eine unfriedliche

Entwicklung in Europa „durch ihre aufrichtige und tätige

Mitarbeit zu verhindern“.

31

Des Weiteren behauptet Hitler,

„Deutschland wäre auch ohne weiteres bereit, seine gesamte

militärische Einrichtung überhaupt aufzulösen und den

kleinen Rest der ihm verbliebenen Waffen zu zerstören,

wenn die anliegenden Nationen ebenso restlos das gleiche

tun.“ 

32

Die Forderung nach dieser „Gleichberechtigung“

wäre, so Hitler, „eine Forderung der Moral, des Rechtes

und der Vernunft, eine Forderung, die im Friedensvertrage

selbst anerkannt und deren Erfüllung unlöslich verbunden

wurde mit der Forderung der deutschen Abrüstung als Auf-

takt zur Weltabrüstung.“ 

33

Abschließend verliest Reichs-

tagspräsident Göring den Entschließungsantrag folgenden

Wortlauts: „Der Deutsche Reichstag als die Vertretung des

deutschen Volkes billigt die Erklärung der Reichsregierung

und stellt sich in dieser für das Leben der Nation entschei-

denden Schicksalsfrage der Gleichberechtigung des deut-

schen Volkes geschlossen hinter die Reichsregierung.“ 

34

Toni Pfülfs Fraktionskollege Josef Felder aus Augsburg

urteilt später: „Die Rede Hitlers war äußerst gemäßigt

und wir konnten nur staunen über das grenzenlose Aus-

maß der Verlogenheit, die er dem Westen servierte.“ 

35

Gleichwohl wird die Entschließung im Reichstag mit den

Stimmen der SPD angenommen. Die Fraktion besteht

zu dieser Zeit nur noch aus 65 Abgeordneten. Gemäß

einer Weisung des Exilvorstands hätten sie der Sitzung

29

Protokoll der 3. Reichstagssitzung vom 17.5.1933, S. 51–58, s. http:/

/

www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w8_bsb00000141_00051.html bis http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt2_w8_bsb00000141_00058

.

html [Stand 01.05.2017] hier S. 58.

30 Protokoll (wie Anm. 29), S. 51.

31 Ebd., S. 49.

32 Ebd., S. 52.

33 Ebd., S. 50.

34 Ebd., S. 58.

35 Josef Felder: Warum ich NEIN sagte. Erinnerungen an ein langes Leben für

die Politik, Zürich/München

3

2000, S. 144.

geschlossen fernbleiben und dies in der Öffentlichkeit mit

den Misshandlungen von SPD-Anhängern in den Kon-

zentrationslagern begründen sollen. Toni Pfülf unterstützt

dies vehement. Der Pazifistin, die sich 30 Jahre lang für

Gleichberechtigung eingesetzt hat, erscheint es unerträg-

lich, diesen Wertbegriff nun in den Kontext nationalsozia-

listischer Rechtfertigung militärischer Aufrüstung gestellt

zu sehen. „Sie setzte sich mit großer Leidenschaft für die

sofortige Abreise ein“, erinnert sich Felder.

36

Es ist für sie unfassbar, dass der Fraktionsvorsitzende Paul

Löbe und ihm folgend zahlreiche andere Abgeordnete dazu

neigen, an der Sitzung teilzunehmen und sich für Hitlers

Zwecke einspannen zu lassen. Ausschlaggebend für diese

nachgiebige Haltung ist die Drohung, die der nationalsozia­

listische Innenminister Frick im Ältestenrat ausgesprochen

hatte. Fraktionsmitglied Wilhelm Hoegners übersetzt diese

Drohung ins Unmissverständliche: Bei Nichtzustimmung

„würden die Anhänger der Sozialdemokratie innerhalb und

außerhalb der Konzentrationslager als ‚Landesverräter‘ für

vogelfrei erklärt und abgeschlachtet“.

37

Bei der Entscheidung über das Abstimmungsverhalten

sprechen sich schließlich 48 Abgeordnete dafür aus, an der

Sitzung teilzunehmen und der Resolution zuzustimmen,

17 stimmen dagegen. Die Unterlegenen ordnen sich dem

Mehrheitsvotum unter – nicht so Toni Pfülf. Sie boykot-

tiert die Reichstagssitzung. Anscheinend ist sie nicht die

einzige; Hoegners späterer Erinnerung zufolge sind einige

Abgeordnete der Sitzung ferngeblieben.

38

Eine Teilneh-

merliste von der Reichstagssitzung existiert offenbar nicht.

Sicher aber ist: Von den Anwesenden wird Hitlers Resolu-

tion einstimmig verabschiedet.

36 Felder (wie Anm. 33), S. 140.

37 Wilhelm Hoegner: Flucht vor Hitler. Erinnerungen an die Kapitulation der

ersten deutschen Republik 1933, Frankfurt a.M. 1979, S. 149. Hoegner

charakterisiert Toni Pfülf in dieser Situation aus einer durch und durch

männlichen Sichtweise und greift zurück auf das Beschreibungsmuster

von einer geistig unselbständigen, hysterischen und bemitleidenswerten

Frau. Sie habe sich in der Fraktionssitzung „ganz von Sinnen gebärdet“, sei

von „Nervenkrämpfen geschüttelt.“ Sie habe Paul Löbe als ihren „geistigen

Führer verehrt“, sein Plädoyer für eine Zustimmung der SPD habe sie in

eine tiefe Verzweiflung gestürzt. Die Anwesenden hätte „tiefes Mitgefühl“

mit ihr empfunden (S. 150 f.) Um sich das Leben zu nehmen, habe sie

„Gift“ genommen (S. 156.) Vergiftet ist auf jeden Fall das Lob, das Hoeg-

ner der Person Toni Pfülf zollt. Die „Tochter eines deutschen Generals […]

war als schwächliches Mädchen in der Familie zurückgesetzt, darum wohl

‚aus der Art geschlagen‘, Volksschullehrerin und dann Frauenrechtlerin,

im Kriege Pazifistin, zuletzt Sozialistin geworden. Eine Lungenkrankheit

bekämpfte sie mit zäher Energie. Äußerlich stellte sie einen fast männli-

chen Typ dar, wenn sie es gelegentlich auch nicht an weiblicher Schläue

fehlen ließ. Sie gehörte zu den wenigen geistig bedeutenden Frauen in der

Nationalversammlung und im Reichstag.“ (S. 36)

38 Hoegner (wie Anm. 37), S. 152.