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Toni Pfülf (1877–1933)
Einsichten und Perspektiven 2 | 17
tritt bestätigt, erklärt er am Ende des Gesprächs, er müsse
den Inhalt des Gesprächs nun der Regierung mitteilen.
Toni Pfülf reagiert darauf in aller Schärfe und sagt (den
Regierungsakten zufolge): „Tun Sie das; ich werde die
Angelegenheit dann im Interesse des ganzen Lehrerstandes
durchkämpfen. Ich stütze mich auf die Reichsverfassung,
die ich kenne; denn ich habe sie mitgemacht.“
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In einem
Schreiben an die Schulbehörde bezeichnet sie daraufhin
das Verhalten Reichels als Verstoß gegen die guten Sitten
und hält – unter Bezugnahme auf den Satz „Niemand
ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenba-
ren“ fest: „Amtlich über einen etwaigen Kirchenaustritt
befragt, erkläre ich, dass ich auf Grund des Artikels 136
Abs. 3 der R.V. zu einer Antwort nicht verpflichtet bin.“
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In Parlamentsdebatten kritisiert sie die Praxis, Lehrer auf-
grund ihrerWeigerung, Religionsunterricht zu erteilen, straf-
zuversetzen. Sie unterstützt die Forderung, dass kein Schüler
und kein Lehrer zwangsweise zum Religionsunterricht ange-
halten werden dürfe. Niemand weiß, dass sie in dieser Sache
selbst dauerhaft mit der bayerischen Regierung zu kämpfen
hat. Die Ministerialbeamten kommen nicht wirklich wei-
ter, lassen jedoch nicht ab von ihrem Bemühen, Sanktionen
gegen Toni Pfülf wegen ihres Kirchenaustritts zu verhängen.
Über elf Jahre zieht sich der Vorgang hin. In der Zwischen-
zeit wird sie 1926 infolge ihrer Dienstjahre zur Hauptleh-
rerin befördert und bezieht ein jährliches Grundgehalt von
3.234 Reichsmark. Wegen ihrer Abgeordnetentätigkeit gibt
sie nach wie vor keinen Unterricht. Anfang 1929 gelingt es
den Behörden durch unermüdliches Nachbohren tatsäch-
lich, einen Nachweis für ihren Kirchenaustritt zu erhalten,
in Form einer schriftlichen Bestätigung des Stadtpfarrers
von St. Ursula in München Schwabing. Das Kultusminis-
terium hätte sie nun gerne in den einstweiligen Ruhestand
mit Wartegeld versetzt, was sich jedoch infolge ihre Abge-
ordneten-Status als unmöglich erweist. Regelmäßig forscht
die Regierung nach, ob sie noch immer Abgeordnete ist. Als
Toni Pfülf sich im Frühjar 1931 zum Schuldienst melden
will, weil sich der Reichstag im April bis Oktober des Jahres
vertagt hat, verwehrt man ihr eine Wiederberufung. „Eine
Beschäftigung der Pfülf ist zu unterlassen“, heißt es in einer
Anweisung aus dem bayerischen Kultusministerium.
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21 Schreiben der Stadtschulbehörde der Landeshauptstadt München an die
Regierung von Oberbayern vom 6. November 1920, in: Personalact (wie
Anm. 5).
22 Schreiben von Toni Pfülf an die Stadtschulbehörde München vom 27. Ok-
tober 1920, in: Personalact (wie Anm. 5).
23 Schreiben des bayerischen Kultusministeriums an die Stadtschulbehörde
vom 2.7.1931, in: Personalact (wie Anm. 5).
„Überlassen S’ das Politisieren den Mannsleuten!“
Von 1920 bis März 1933 gehört Toni Pfülf durchgehend
dem Reichstag an. Bei den Wahlen zum 1. Reichstag
der Weimarer Republik am 6. Juni 1920 wie auch bei
den Wahlen vier Jahre später tritt sie für den Wahlkreis
Oberbayern Schwaben an, seit der Wahl am 7. Dezember
1924 und bis zum Schluss für den Wahlkreis Niederbay-
ern. Grund für den Wechsel sind parteiinterne Streite-
reien und Machtkämpfe mit ihrem Widersacher, dem
bayerischen SPD-Vorsitzenden Erhard Auer. Von großer
geistiger Unabhängigkeit und mit einem ausgeprägten
Gerechtigkeitssinn, von starken Überzeugungen getra-
gen, beredt, sozial engagiert, kämpferisch und nicht zu
Kompromissen bereit: Eine solche Frau stößt nicht über-
all auf Gegenliebe – auch nicht in den eigenen Reihen. Im
Reichstag erwirbt sie sich durch ihre gute Arbeit jedoch
bald die Achtung aller Parteien. Sie wird Schriftführe-
rin im Justizausschuss. Dessen Vorsitzender, der Straf-
rechtsprofessor Wilhelm Kahl, habe allergrößtenWert auf
ihre Mitarbeit gelegt und wurde sichtlich nervös, wenn
sie nicht anwesend war, erinnert sich ihre Fraktionskol-
legin Marie Juchacz später.
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Als Mitglied im Ausschuss
für Rechtspflege ist sie souveräne Berichterstatterin der
24 Marie Juchacz: Toni Pfülf, in: Sie lebten für eine bessere Welt. Lebensbil-
der führender Frauen des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin/Hannover 1955,
S. 96–100.
Sitzung der Nationalversammlung in Weimar, März 1919
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