9
Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
1987 uraufgeführten, aber schon 1984 gedrehten Spiel-
film „Die Reue“ des georgischen Regisseurs Tengis Abu-
ladse. Er schildert in allegorisch verfremdeter, aber sehr
eindringlicher Form sowohl die Schrecken der stalinisti-
schen Diktatur als auch die fatalen gesellschaftlichen Fol-
gen der unterbliebenen Vergangenheitsbewältigung. Die-
sen Film, der sich als Gegenstand vieler Diskussionen „zu
einer kinematographischen Sensation“ entwickelte, sahen
damals mehr als 30 Millionen Sowjetbürger. Sein Erfolg
unterstrich das enorme gesellschaftliche Interesse, sich
nun endlich nicht mehr allein mit den Ruhmes-, sondern
auch mit den lange verdrängten Schandtaten der sowjeti-
schen Geschichte auseinanderzusetzen.
16
Tengis Abuladse bei der Premiere seines Films „Reue“ in Moskau, Februar 1987
Foto: ullstein bild/Sputnik
16 Johannes Grotzky: Schachmatt. Die letzten Jahre der Sowjetunion unter
Michail Gorbatschow, Norderstedt 2012, S. 168ff.; Eva Binder: Der Film
der Perestrojka, in: Christine Engel (Hg.): Geschichte des sowjetischen und
russischen Films, Stuttgart 1999, S. 252ff. u. 268 f.; Denise Jeanne Young-
blood and Josephine Woll: Repentance, London 2001.
Als sich 1987 die Oktoberrevolution zum 70ten Mal
jährte, enthüllte in der Folgezeit eine Vielzahl von kriti-
schen Presse- und Fachartikeln die Monstrosität der sta-
linistischen Gewaltherrschaft. In den Archiven konnten
Historiker erstmals aussagekräftige Dokumente einsehen,
die deutlich machten, wie ausufernd das stalinistische
Zwangsarbeitslagersystem (GULag) gewesen war, und
wie skrupellos Stalin die Deportation ganzer Sowjetvöl-
ker angeordnet hatte. Forscher und Journalisten diagnos-
tizierten die noch offenen, schmerzhaften Wunden der
Sowjetgeschichte. Glasnost wurde damit zum „Fenster für
die Gespenster der Vergangenheit“.
17
Niemals zuvor hatte
die sowjetische Geschichte eine derartige gesellschaftliche
Relevanz und politische Aktualität besessen.
18
Befallen vom Schwindel fortwährend sensationeller Ent-
hüllungen über Vergangenheit und Gegenwart, verloren
viele Sowjetbürger durch Glasnost die Orientierung. Sow-
jetische Meinungsforscher konstatierten nach der Auswer-
tung mehrerer repräsentativer Massenumfragen einen „Pro-
zess des lawinenartig anwachsenden Zusammenbruchs der
sozialen Institutionen und des Einstürzens menschlicher
Vorbilder der vergangenen Epoche“.
19
Diese sich aus dem
„historical overdosing“
20
ergebende Wahrheits- und Frei-
heitsirritation lässt sich auch eindrücklich im Erinnerungs-
und Interview-Buch nachlesen, das die weißrussische Lite-
raturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch verfasst hat.
Einer ihrer Gesprächspartnerinnen brachte den Verlust von
Glaubensgewissheiten und die Erfahrung einer kulturellen
Schocktherapie treffend auf den Punkt:
„Wir erfuhren vieles aus der Geschichte, das man vor
uns geheim gehalten hatte […]. Die Menschen lasen das
alles in Zeitungen und Zeitschriften und verstummten. Ein
so unvorstellbares Grauen? Viele nahmen die Wahrheit auf
wie einen Feind. Und auch die Freiheit […]. Die Mehrheit
fühlte sich von der Freiheit genervt. Ich habe drei Zeitungen
verkauft, und in jeder steht eine andere Wahrheit. Wo ist
17 Wladimir Bukowski: UdSSR: Von der Utopie zum Desaster, Stuttgart 1991,
S. 250.
18 Dietrich Geyer (Hg.): Die Umwertung der sowjetischen Geschichte, Göt-
tingen 1991; Kathleen Smith: Remembering Stalin’s Victims. Popular Me-
mory and the End of the USSR, New York/London 1996.
19 Lewada (wie Anm. 13), S. 298. Zu diesem eindrucksvollen Soziogramm,
das eine einzigartige Quelle für die sowjetische Zerfallsgeschichte dar-
stellt, vgl. Klaus Gestwa: Der Homo Sovieticus und der Zerfall des Sow-
jetimperiums. Jurij Levadas unliebsame Sozialdiagnosen, in: Zeithistori-
sche Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 10
(2013), H. 2, URL:
http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2013/id=4486 [Stand: 17.06.2016], Druckausgabe: S. 331–341.
20 Philipp Ther: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte
des neoliberalen Europas, Berlin 2014, S. 30.