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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
Jede seriöse Interpretation der Zerfallsgeschichte der Sowjetunion wird um die Zent-
ralität der Wirtschaftsmisere nicht herumkommen, um zu verdeutlichen, warum in der
Sowjetunion der gesellschaftliche Aufbruch der Perestroika nach 1989 immer mehr in
eine Katastrophenstimmung umschlug. Aber die ökonomische Perspektive allein reicht
auch nicht aus; sie muss unbedingt mit gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen
und politischen Konflikten in Verbindung gebracht werden, die sich in der multiplen
Finalitätskrise des Sowjetimperiums gegenseitig hochschaukelten und erst in ihrem
eskalierenden Wechselspiel die Dynamiken entwickelten, die das Sowjetimperium
schließlich rasant kollabieren ließen.
Glasnost – der holprige Start
Das Scheitern der Perestroika ist eng mit dem Aufstieg
ihres politischen Zwillingsbegriffs der Glasnost verbunden.
Auch dieses Schlüsselkonzept verkündete Gorbatschow in
seiner vielbeachteten Rede, die er auf dem 27. Parteitags
der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU)
hielt, um sein ambitioniertes Reformprogramm zu skiz-
zieren. Ideologisch untermauert mit Verweisen auf Lenin,
bedeutete Glasnost zuerst vor allemTransparenz und stellte
eine „ehrliche Informationspolitik“ des Parteistaats in Aus-
sicht. Der Verlogenheit und Scheinheiligkeit der offiziellen
Verlautbarungen sollte ein Ende gemacht werden.
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Anders als seine Vorgänger im Amt fürchtete Gorba-
tschow nicht Widerspruch und Meinungsstreit. Darum
hatte er seine politischen Ämter schon vor dem Einzug in
den Kreml immer wieder genutzt, um kritische Diskussi-
onsrunden von Experten einzuberufen. Als neuer Gene-
ralsekretär teilte Gorbatschow dann seiner Partei mit, es
sei an der Zeit, die „Gedankenregung des Volkes“ nicht
mehr als Verwirrung stiftende Bedrohung zu verstehen,
sondern im Gegenteil positiv aufzugreifen, um „durch
den an Tiefe gewinnenden Demokratisierungsprozess“ die
Menschen in die Politik einzubinden.
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Bei ihrer ersten großen Bewährungsprobe nach der Nuk-
learkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 erwies
sich Glasnost aber noch als Totalausfall. Die Verantwort-
lichen verfielen wieder in die übliche Praxis der Geheim-
haltung und Vertuschung. Gefahren und Risiken wurden
erneut bagatellisiert. In diesem Klima des Misstrauens
erklärte Helmut Kohl im Oktober 1986, Gorbatschow sei
1 Zum Begriff Glasnost vgl. Michael S. Gorham: After Newspeak. Language
Culture and Politics in Russia from Gorbachev to Putin, Ithaca/London
2014, S. 50–62.
2 Michail Gorbatschow: Glasnost. Das neue Denken, Berlin 1989, S. 26 u. 28.
kein Reformer, sondern nur ein geschickter Propagandist.
Der bundesdeutsche Kanzler brachte es sogar fertig, den
neuen Kremlchef mit Goebbels zu vergleichen. Deshalb zog
es sich bis 1988 hin, ehe Kohl zu Gorbatschow politische
Freundschaftsbande knüpfen konnte.
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Im Inland bekam Gorbatschow den durch Tschernobyl
entstandenen Vertrauensverlust erst 1989 in aller Wucht
zu spüren, nachdem die für den Super-GAU verhängte
Nachrichtensperre endlich aufgehoben worden war und
die Medien immer mehr Einzelheiten über das fahrläs-
sige Verhalten der Verantwortlichen und das Versagen
des Katastrophenmanagements in Erfahrung brachten. In
Weißrussland und in der Ukraine zogen damals empörte
Menschenmassen auf die Straße und forderten einen
neuen „Nürnberger Prozess“, weil Moskau offenbar einen
„nuklearen Genozid“ gegen das weißrussische und ukrai-
nische Volk geplant habe.
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Politisches Kalkül und Mobilisierungsfunktion
Trotz des kapitalen Fehlstarts nahm Glasnost bald Fahrt
auf. Nach 1987 entwickelte sich ein vorpreschender Ent-
hüllungsjournalismus, der sich mit den Absurditäten der
sowjetischen Gesellschaft auseinandersetzte und klare
Worte sowie eindrucksvolle Bilder fand, um die Dramatik
drängender politischer Probleme zu vermitteln. Mit Glas-
nost verschwand die überlieferte Medienmüdigkeit auf
3 Mária Huber: Moskau, 11. März 1985. Die Auflösung des sowjetischen
Imperiums, München 2002, S. 99. Zur anfänglich zögerlichen Haltung
der USA vgl. James G. Wilson: The Triumph of Improvisation. Gorbachev’s
Adaptability, Reagan’s Engagement, and the End of the Cold War, Ithaca/
London 2014, S. 87–115.
4 Jane I. Dawson: Eco-Nationalism. Anti-Nuclear Acitivism and National
Identity in Russia, Lithuania, and Ukraine, Durham/London 1996; Melanie
Arndt (Hg.): Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-) Europäische
Perspektiven, Berlin 2016.