Table of Contents Table of Contents
Previous Page  5 / 80 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 5 / 80 Next Page
Page Background

5

Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

Jede seriöse Interpretation der Zerfallsgeschichte der Sowjetunion wird um die Zent-

ralität der Wirtschaftsmisere nicht herumkommen, um zu verdeutlichen, warum in der

Sowjetunion der gesellschaftliche Aufbruch der Perestroika nach 1989 immer mehr in

eine Katastrophenstimmung umschlug. Aber die ökonomische Perspektive allein reicht

auch nicht aus; sie muss unbedingt mit gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen

und politischen Konflikten in Verbindung gebracht werden, die sich in der multiplen

Finalitätskrise des Sowjetimperiums gegenseitig hochschaukelten und erst in ihrem

eskalierenden Wechselspiel die Dynamiken entwickelten, die das Sowjetimperium

schließlich rasant kollabieren ließen.

Glasnost – der holprige Start

Das Scheitern der Perestroika ist eng mit dem Aufstieg

ihres politischen Zwillingsbegriffs der Glasnost verbunden.

Auch dieses Schlüsselkonzept verkündete Gorbatschow in

seiner vielbeachteten Rede, die er auf dem 27. Parteitags

der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU)

hielt, um sein ambitioniertes Reformprogramm zu skiz-

zieren. Ideologisch untermauert mit Verweisen auf Lenin,

bedeutete Glasnost zuerst vor allemTransparenz und stellte

eine „ehrliche Informationspolitik“ des Parteistaats in Aus-

sicht. Der Verlogenheit und Scheinheiligkeit der offiziellen

Verlautbarungen sollte ein Ende gemacht werden. 

1

Anders als seine Vorgänger im Amt fürchtete Gorba-

tschow nicht Widerspruch und Meinungsstreit. Darum

hatte er seine politischen Ämter schon vor dem Einzug in

den Kreml immer wieder genutzt, um kritische Diskussi-

onsrunden von Experten einzuberufen. Als neuer Gene-

ralsekretär teilte Gorbatschow dann seiner Partei mit, es

sei an der Zeit, die „Gedankenregung des Volkes“ nicht

mehr als Verwirrung stiftende Bedrohung zu verstehen,

sondern im Gegenteil positiv aufzugreifen, um „durch

den an Tiefe gewinnenden Demokratisierungsprozess“ die

Menschen in die Politik einzubinden. 

2

Bei ihrer ersten großen Bewährungsprobe nach der Nuk-

learkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 erwies

sich Glasnost aber noch als Totalausfall. Die Verantwort-

lichen verfielen wieder in die übliche Praxis der Geheim-

haltung und Vertuschung. Gefahren und Risiken wurden

erneut bagatellisiert. In diesem Klima des Misstrauens

erklärte Helmut Kohl im Oktober 1986, Gorbatschow sei

1 Zum Begriff Glasnost vgl. Michael S. Gorham: After Newspeak. Language

Culture and Politics in Russia from Gorbachev to Putin, Ithaca/London

2014, S. 50–62.

2 Michail Gorbatschow: Glasnost. Das neue Denken, Berlin 1989, S. 26 u. 28.

kein Reformer, sondern nur ein geschickter Propagandist.

Der bundesdeutsche Kanzler brachte es sogar fertig, den

neuen Kremlchef mit Goebbels zu vergleichen. Deshalb zog

es sich bis 1988 hin, ehe Kohl zu Gorbatschow politische

Freundschaftsbande knüpfen konnte. 

3

Im Inland bekam Gorbatschow den durch Tschernobyl

entstandenen Vertrauensverlust erst 1989 in aller Wucht

zu spüren, nachdem die für den Super-GAU verhängte

Nachrichtensperre endlich aufgehoben worden war und

die Medien immer mehr Einzelheiten über das fahrläs-

sige Verhalten der Verantwortlichen und das Versagen

des Katastrophenmanagements in Erfahrung brachten. In

Weißrussland und in der Ukraine zogen damals empörte

Menschenmassen auf die Straße und forderten einen

neuen „Nürnberger Prozess“, weil Moskau offenbar einen

„nuklearen Genozid“ gegen das weißrussische und ukrai-

nische Volk geplant habe. 

4

Politisches Kalkül und Mobilisierungsfunktion

Trotz des kapitalen Fehlstarts nahm Glasnost bald Fahrt

auf. Nach 1987 entwickelte sich ein vorpreschender Ent-

hüllungsjournalismus, der sich mit den Absurditäten der

sowjetischen Gesellschaft auseinandersetzte und klare

Worte sowie eindrucksvolle Bilder fand, um die Dramatik

drängender politischer Probleme zu vermitteln. Mit Glas-

nost verschwand die überlieferte Medienmüdigkeit auf

3 Mária Huber: Moskau, 11. März 1985. Die Auflösung des sowjetischen

Imperiums, München 2002, S. 99. Zur anfänglich zögerlichen Haltung

der USA vgl. James G. Wilson: The Triumph of Improvisation. Gorbachev’s

Adaptability, Reagan’s Engagement, and the End of the Cold War, Ithaca/

London 2014, S. 87–115.

4 Jane I. Dawson: Eco-Nationalism. Anti-Nuclear Acitivism and National

Identity in Russia, Lithuania, and Ukraine, Durham/London 1996; Melanie

Arndt (Hg.): Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-) Europäische

Perspektiven, Berlin 2016.