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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

„die Revolution uns gelehrt hat, an die Ungerechtigkeit

des Guten zu glauben. Wie viele Welten zünden wir noch

im Namen Deines heiligen Feuers an?“ 

30

Dieser Prozess der Entsakralisierung historischer Tri-

umphe machte selbst vor dem Zweiten Weltkrieg nicht

Halt. Er verlor als positiver historischer Bezugspunkt an

Bedeutung, weil die bitteren Kehrseiten des Sieges und die

zahlreichen Kriegsverbrechen Stalins plötzlich im Fokus

standen. Die historischen Zeitbomben wurden durch

Glasnost demnach keineswegs entschärft; ganz im Gegen-

teil: Sie explodierten und die davon ausgehenden politi-

schen Druckwellen lösten den ideellen Überbau der sow-

jetischen Ordnung in seine einzelnen Bestandteile auf. 

31

Der bekannte sowjetische Historiker und Publizist Jurij

Afanasjew entlarvte schon im Sommer 1989 Gorbat-

schows Perestroika als ein nicht eingelöstes Versprechen

auf eine bessere Zukunft. Die ohnmächtigen Reformen

hätten unter Beibehaltung alter Fundamente eine General-

überholung des Gebäudes versucht. Infolge von Glasnost

stellte sich allerdings heraus, dass sogar die Fundamente

ausgewechselt werden müssten, aber niemand wisse, was

dabei mit den frustrierten Bewohnern geschehen solle. 

32

Als Erfinder von Perestroika und Glasnost rückte

Gorbatschow zunehmend in den Fokus der öffentlichen

Kritik. Weil seine Politik keine Kehrtwende einzuleiten

vermochte, sondern die Lage nur noch verschlimmerte,

brachen seine Popularitätswerte ein. 

33

Der öffentliche

Gegenwind wurde zum Orkan, der Gorbatschows hoch-

gesteckten Visionen fortwehte und am sowjetischen

Weltbild irreversible Sturmschäden hinterließ. Während

der traditionellen Maiparade 1990 pfiffen die vorbeizie-

henden Menschen Gorbatschow auf dem Roten Platz

gnadenlos aus. Die gesellschaftliche Stimmung war umge-

schlagen. Der Sozialismus galt vielen immer weniger als

Lösung, sondern als das eigentliche Problem. Auf dem

Glatteis offener gesellschaftlicher Auseinandersetzung um

den richtigen Kurs verlor die politische Perestroika ihre

Balance und mutierte in der öffentlichen Meinung zur

politischen

Katastroika

. 

34

Bestehende soziale Formen und

30 Ein Video der Uraufführung dieses Liedes im April 1987 findet sich unter https://www.youtube.com/watch?v=BmYWW8a2bH0 [Stand: 10.03.2016].

31 Aron (wie Anm. 11), S. 151–171; Robert W. Davies: Perestroika und Ge-

schichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie, München 1991.

32 Zit. nach Grotzky (wie Anm. 16), S. 250.

33 Lewada (wie Anm. 13), S. 231 f.

34 David Lane: The Capitalist Transformation of State Socialism. The Making

and Breaking of State Socialist Society, and What Followed, London/New

York 2014, S. 100f.

Glaubensgewissheiten lösten sich schneller auf, als neue

an ihrer Stelle entstehen konnten.

Genauso wie der Meinungspluralismus und die kritische

Medienwelt gehörten darum zertrümmerte kommunisti-

sche Traumlandschaften und ein ideologisches Vakuum zur

Hinterlassenschaft Gorbatschows. Die Gesellschaft hatte mit

Glasnost die „spirituelle Sklaverei“ (Andrej Sacharow) hinter

sich gelassen und war endlich politisch mündig geworden;

sie hatte dabei aber ihre geistigen Grundlagen und damit an

Orientierung verloren. Angesichts der „Desintegration der

Seelen“ 

35

begaben sich viele zu Sinn- und Identitätsstiftern

berufene politische Akteure auf die verzweifelte Suche nach

einer neuen, gesellschaftlich konsensfähigen Idee. Sie mach-

ten skurrile, aber politisch brisante Irrlehren wieder hoffähig,

die noch heute mit einem hyperpatriotischen Geraune

von der „russischen Welt“ den innen- und außenpoliti-

schen Kurs des Kremls mitbestimmen. 

36

Mehr Demokratie wagen – die Flucht nach vorn

Gorbatschow verglich 1988 die Pressefreiheit mit einer

„Rasierklinge in der Hand eines Kindes“. 

37

Er wusste also

um die Gefahren, wenn sich die sowjetische Gesellschaft

mit ihrer selbstbewussten Teilhabe an der öffentlichen Mei-

nungsbildung zunehmend vom allmächtigen Parteistaat

emanzipierte. Die so freigesetzten politischen Energien

trieben die Perestroika immer weiter voran und bald auch

über die Ziele hinaus, die Gorbatschow eigentlich im Auge

gehabt hatte. Mit demÖffnen der Schleusen für die Artiku-

lation von Kritik und Konflikt führte Glasnost darum nicht

nur zu einem Strukturwandel der Öffentlichkeit; es kam

auch zu einem „Strukturwandel durch Öffentlichkeit“. 

38

Neben derMitsprache drängten die politischmündigwer-

denden Sowjetbürger bald zunehmend auf Mitbestimmung

und ihre Partizipation an politischen Entscheidungsprozes-

sen. Gorbatschow stand damit vor der schwierigen Aufgabe,

Demokratisierungsprozesse einzuleiten, ohne dadurch die

gesellschaftliche Vorrangstellung und Alleinherrschaft der

Partei in Frage zu stellen, als deren Generalsekretär er im

Kreml Macht ausübte. Mit der Explosion der öffentlichen

Kritik stand unweigerlich die Partei zur Disposition, weil

sie offensichtlich ihren weitgehenden gesellschaftlichen

35 Aron (wie Anm. 11), S. 187.

36 Jutta Scherrer: Russland verstehen? Das postsowjetische Selbstverständ- nis im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 47–48/2014, S. 17–27; http://www.bpb.de/apuz/194818/russland-verstehen [Stand: 10.03.2016].

37 Dalos (wie Anm. 23), S. 141.

38 Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Impe-

riums, München 2009, S. 25.