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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
„die Revolution uns gelehrt hat, an die Ungerechtigkeit
des Guten zu glauben. Wie viele Welten zünden wir noch
im Namen Deines heiligen Feuers an?“
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Dieser Prozess der Entsakralisierung historischer Tri-
umphe machte selbst vor dem Zweiten Weltkrieg nicht
Halt. Er verlor als positiver historischer Bezugspunkt an
Bedeutung, weil die bitteren Kehrseiten des Sieges und die
zahlreichen Kriegsverbrechen Stalins plötzlich im Fokus
standen. Die historischen Zeitbomben wurden durch
Glasnost demnach keineswegs entschärft; ganz im Gegen-
teil: Sie explodierten und die davon ausgehenden politi-
schen Druckwellen lösten den ideellen Überbau der sow-
jetischen Ordnung in seine einzelnen Bestandteile auf.
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Der bekannte sowjetische Historiker und Publizist Jurij
Afanasjew entlarvte schon im Sommer 1989 Gorbat-
schows Perestroika als ein nicht eingelöstes Versprechen
auf eine bessere Zukunft. Die ohnmächtigen Reformen
hätten unter Beibehaltung alter Fundamente eine General-
überholung des Gebäudes versucht. Infolge von Glasnost
stellte sich allerdings heraus, dass sogar die Fundamente
ausgewechselt werden müssten, aber niemand wisse, was
dabei mit den frustrierten Bewohnern geschehen solle.
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Als Erfinder von Perestroika und Glasnost rückte
Gorbatschow zunehmend in den Fokus der öffentlichen
Kritik. Weil seine Politik keine Kehrtwende einzuleiten
vermochte, sondern die Lage nur noch verschlimmerte,
brachen seine Popularitätswerte ein.
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Der öffentliche
Gegenwind wurde zum Orkan, der Gorbatschows hoch-
gesteckten Visionen fortwehte und am sowjetischen
Weltbild irreversible Sturmschäden hinterließ. Während
der traditionellen Maiparade 1990 pfiffen die vorbeizie-
henden Menschen Gorbatschow auf dem Roten Platz
gnadenlos aus. Die gesellschaftliche Stimmung war umge-
schlagen. Der Sozialismus galt vielen immer weniger als
Lösung, sondern als das eigentliche Problem. Auf dem
Glatteis offener gesellschaftlicher Auseinandersetzung um
den richtigen Kurs verlor die politische Perestroika ihre
Balance und mutierte in der öffentlichen Meinung zur
politischen
Katastroika
.
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Bestehende soziale Formen und
30 Ein Video der Uraufführung dieses Liedes im April 1987 findet sich unter https://www.youtube.com/watch?v=BmYWW8a2bH0 [Stand: 10.03.2016].31 Aron (wie Anm. 11), S. 151–171; Robert W. Davies: Perestroika und Ge-
schichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie, München 1991.
32 Zit. nach Grotzky (wie Anm. 16), S. 250.
33 Lewada (wie Anm. 13), S. 231 f.
34 David Lane: The Capitalist Transformation of State Socialism. The Making
and Breaking of State Socialist Society, and What Followed, London/New
York 2014, S. 100f.
Glaubensgewissheiten lösten sich schneller auf, als neue
an ihrer Stelle entstehen konnten.
Genauso wie der Meinungspluralismus und die kritische
Medienwelt gehörten darum zertrümmerte kommunisti-
sche Traumlandschaften und ein ideologisches Vakuum zur
Hinterlassenschaft Gorbatschows. Die Gesellschaft hatte mit
Glasnost die „spirituelle Sklaverei“ (Andrej Sacharow) hinter
sich gelassen und war endlich politisch mündig geworden;
sie hatte dabei aber ihre geistigen Grundlagen und damit an
Orientierung verloren. Angesichts der „Desintegration der
Seelen“
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begaben sich viele zu Sinn- und Identitätsstiftern
berufene politische Akteure auf die verzweifelte Suche nach
einer neuen, gesellschaftlich konsensfähigen Idee. Sie mach-
ten skurrile, aber politisch brisante Irrlehren wieder hoffähig,
die noch heute mit einem hyperpatriotischen Geraune
von der „russischen Welt“ den innen- und außenpoliti-
schen Kurs des Kremls mitbestimmen.
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Mehr Demokratie wagen – die Flucht nach vorn
Gorbatschow verglich 1988 die Pressefreiheit mit einer
„Rasierklinge in der Hand eines Kindes“.
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Er wusste also
um die Gefahren, wenn sich die sowjetische Gesellschaft
mit ihrer selbstbewussten Teilhabe an der öffentlichen Mei-
nungsbildung zunehmend vom allmächtigen Parteistaat
emanzipierte. Die so freigesetzten politischen Energien
trieben die Perestroika immer weiter voran und bald auch
über die Ziele hinaus, die Gorbatschow eigentlich im Auge
gehabt hatte. Mit demÖffnen der Schleusen für die Artiku-
lation von Kritik und Konflikt führte Glasnost darum nicht
nur zu einem Strukturwandel der Öffentlichkeit; es kam
auch zu einem „Strukturwandel durch Öffentlichkeit“.
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Neben derMitsprache drängten die politischmündigwer-
denden Sowjetbürger bald zunehmend auf Mitbestimmung
und ihre Partizipation an politischen Entscheidungsprozes-
sen. Gorbatschow stand damit vor der schwierigen Aufgabe,
Demokratisierungsprozesse einzuleiten, ohne dadurch die
gesellschaftliche Vorrangstellung und Alleinherrschaft der
Partei in Frage zu stellen, als deren Generalsekretär er im
Kreml Macht ausübte. Mit der Explosion der öffentlichen
Kritik stand unweigerlich die Partei zur Disposition, weil
sie offensichtlich ihren weitgehenden gesellschaftlichen
35 Aron (wie Anm. 11), S. 187.
36 Jutta Scherrer: Russland verstehen? Das postsowjetische Selbstverständ- nis im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 47–48/2014, S. 17–27; http://www.bpb.de/apuz/194818/russland-verstehen [Stand: 10.03.2016].37 Dalos (wie Anm. 23), S. 141.
38 Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Impe-
riums, München 2009, S. 25.