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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
treuung fanden viele von ihnen keinen Weg zurück in die
gesellschaftliche Normalität. An den unbewältigten Folgen
des zunehmend als sinnlos erscheinenden Afghanistan-
Kriegs zerbrachen Hunderttausende von Familien – eine
schreckliche Kriegserfahrung, die in der Glasnost-Presse
seit 1987 immer offener problematisiert wurde.
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Nicht nur der Afghanistan-Krieg brachte die Rote Ar-
mee in Verruf. Mehrere Presseberichte rückten auch unver-
blümt die innermilitärischen Gewaltverhältnisse ins Licht
der Öffentlichkeit. Jährlich starben damals 8.000 Soldaten
bei der Ableistung ihres Wehrdienstes und zwar nicht auf
den fernen Schlachtfeldern in Afghanistan, sondern da-
heim in den sowjetischen Garnisonen. Die Verstorbenen
waren oftmals Opfer des exzessiven Kasernenterrors, der
sogenannten
dedovščina
. Wörtlich übersetzt, meint die-
ser russische Begriff „Herrschaft der Großväter“. Er um-
schreibt eine informelle männerbündische Gewaltkultur,
die es den dienstälteren Soldaten erlaubt, ihre jüngst ein-
berufenen Kameraden willkürlich zu schinden, zu quälen
und auch sexuell zu missbrauchen. Harscher öffentlicher
12 Swetlana Alexijewitsch: Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen, Frankfurt
am Main 1992; Manfred Sapper: Die Auswirkungen des Afghanistan-Krie-
ges auf die Sowjetgesellschaft. Eine Studie zum Legitimationsverlust des
Militärischen in der Perestrojka, Münster 1994; Tanja Penter/Esther Meier
(Hg.): Sovietnam. Die UdSSR in Afghanistan, 1979–1989, Paderborn 2016.
Kritik ausgesetzt, erschienen die sowjetischen Streitkräfte
darum bald nicht mehr als mächtiger Sicherheitsgarant
und Stolz des Parteistaats, sondern als potentieller Gefah-
renraum und Schule der Gewalt. Das trug maßgeblich
zum Legitimationsverlust des Militärischen während der
Perestroika bei.
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Der umstrittene Verlust der Geschichte
Neben der „Demontage der Gegenwart“ kam es mit Glas-
nost auch zum „Verlust der Geschichte“.
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Mit aufkläreri-
schem Impetus hatte Gorbatschow verkündet, „dass man
keinen Schritt in die Zukunft tun kann, ohne die Ver-
gangenheit begriffen zu haben […]. Um voranschreiten
zu können, muss die Gesellschaft ihren Zustand kennen –
ohne Verschweigen und ohne Tabus.“
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Er forderte des-
halb die längst überfällige Aufarbeitung der stalinistischen
Terrorherrschaft während der Jahre von 1928 bis 1953.
Die öffentliche Geschichtsdiskussion begann mit dem
13 Simon (wie Anm. 10), S. 267–274; Hans-Henning Schröder: Die Verlierer
der Perestroika. Das Militär und die Rüstungsindustrie, in: Eduard Sche-
wardnadse/Andrej Gurkov/Wolfgang Eichwede (Hg.): Revolution in Mos-
kau. Der Putsch und das Ende der Sowjetunion, Reinbek bei Hamburg
1991, S. 156–175; Juri Lewada: Die Sowjetmenschen 1989–1991. Sozio-
gramm eines Zerfalls. München 1993, S. 127–136.
14 Simon (wie Anm. 10), S. 54–58.
15 Gorbatschow (wie Anm. 2), S. 17.
Sowjetische Truppenbewegungen bei Kabul in Afghanistan, März 1980
Foto: SZ Photo