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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
Ordnungsanspruch kaum mehr effizient ausübte. Ungeach-
tet dieses massiven Vertrauensverlusts sah Gorbatschow in
der Partei mit ihren weitverzweigten Organisationsstruk-
turen und ihren vielen Millionen von aktiven Mitgliedern
den idealen Transmissionsriemen der Perestroika. Deshalb
hatte nach seinem Amtsantritt der erste innenpolitische
Kraftakt der Ausarbeitung eines neuen, zeitgemäßen Partei-
programms gegolten, das sodann auf dem 27. Parteitag im
Februar 1986 verabschiedet wurde. Gorbatschow hoffte dar-
auf, dass die Partei „unter den neuen Bedingungen der Wirt-
schaftsreformen und der Demokratisierung die Funktion
der politischen Avantgarde auf echte Art und Weise wahr-
nehmen“ könne.
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Das Wagnis von mehr Demokratie sollte
der Partei zu neuer Stärke und Überzeugungskraft verhelfen.
Das Ende der Einheitslisten und der sowjetische
Volksdeputiertenkongress
Die politische Perestroika nahm im Sommer 1987 mit
der Neuwahl der Räte auf lokaler und regionaler Ebene
weiter Fahrt auf. Räte waren von unten nach oben ver-
meintlich basisdemokratisch gewählte Vertretungs- und
Verwaltungsorgane. Deren Aufgabe war es, die Interessen
der Bürger in den politischen Prozess einzubringen. Nach-
dem es bisher nur von den jeweiligen Parteiorganisatio-
nen erstellte Einheitslisten gegeben hatte, mussten sich im
Sommer 1987 auf lokaler und regionaler Ebene erstmals
mehrere Kandidaten zur Wahl stellen und mit ihren Ideen
um Zustimmung ringen. Dabei gewannen vielfach Abge-
ordnete, die sich offen für den Wandel zeigten und Kritik
an den herrschenden Verhältnissen geübt hatten.
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Über den Rahmen der Partei hinaus ließ Gorbatschow
1987 sogar die Gründung von neuen Klubs zu. Damit gab
er den Unzufriedenen und Vorwärtsdrängenden die Mög-
lichkeit, sich jenseits der schon bestehenden Massenorgani-
sationen zu zivilgesellschaftlichen Foren zusammenzuschlie-
ßen, um ihre berechtigten Anliegen öffentlich vertreten zu
können.
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Neben dem Komitee der Soldatenmütter, das mit
spektakulären Aktionen die Politik dazu zwang, sich mit den
unerträglichen Verhältnissen in der Roten Armee auseinan-
derzusetzen, nahm die regierungsunabhängige Bürger- und
Menschenrechtsorganisation MEMORIAL bald erhebli-
chen Einfluss auf die öffentliche Meinung. Gegründet auf
39 Gorbatschow (wie Anm. 2), S. 36.
40 Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im
20. Jahrhundert, München 2013, S. 510.
41 Olga Alexandrova: Informelle Gruppen und Perestrojka in der Sowjetuni-
on. Eine Bestandaufnahme (= Berichte des Bundesinstituts für ostwissen-
schaftliche und internationale Studien 17/1988), Köln 1988.
Initiative des Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow,
der Ende 1986 aus seiner Verbannung nachMoskau zurück-
kehren durfte, setzte MEMORIAL anfänglich vor allem in
den bewegenden Geschichtsdebatten wichtige Akzente.
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Im Juni 1988 berief Gorbatschow die 19. Parteikonfe-
renz ein, um die Partei auf sein grandioses Reformprojekt
einzuschwören. Knapp 5.000 Delegierte aus allen Teilen
des Landes kamen in Moskau zusammen und entschie-
den, den schon eingeschlagenen Demokratisierungskurs
konsequent weiterzuschreiten.
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Auf Initiative von Gor-
batschow hin beschloss die Parteikonferenz im März 1989
auf der gesamtstaatlichen Unionsebene ein neues höchstes
Vertretungsorgan zu schaffen – den „Kongress der Volksde-
putierten der Sowjetunion“. Dessen Befugnisse als gesetz-
gebendes Organ erinnerten an ein Parlament. Seine 2.250
Mitglieder wurden nach einem komplizierten Verfahren
mehrheitlich halbwegs frei gewählt und kamen zu ihrer
ersten Sitzungsperiode Ende Mai 1989 in Moskau zusam-
men. Live im Fernsehen übertragen, schlug der vierzehn-
tätige Debattenmarathon Millionen von Sowjetbürgern
in seinen Bann. Er politisierte die Gesellschaft in einem
zuvor völlig unbekannten Maße und entwickelte sich zum
Wendepunkt der politischen Perestroika. Obwohl die
Mehrheit der Deputierten weiter zu Gorbatschow und sei-
ner Reformpolitik stand, machten die kontroversen Dis-
kussionen im Volksdeputiertenkongress doch deutlich,
wie sehr sich die politische Landschaft in der Sowjetunion
schon ausdifferenziert hatte. Kritik an der Perestroika kam
nicht mehr nur von den Parteikonservativen, denen die
Reformen zu weit gingen, sondern auch von der soge-
nannten „Interregionalen Abgeordnetengruppe“. Dazu
hatten sich knapp 400 Deputierte zusammengeschlossen,
denen die Perestroika als viel zu halbherzig erschien und
die lautstark weitergehende Neuerungen einforderten.
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Gorbatschow geriet noch weiter in die politische Bre-
douille, als es im Sommer 1989 in den Gruben der bei-
den wichtigsten sowjetischen Kohlerevieren des westsibiri-
schen Kuzbass und des ostukrainischen Donbass zu einem
Bergarbeiterstreik kam. Ihm schlossen sich bald landesweit
viele andere Kumpel an. Sie legten ihre Arbeit keineswegs
nur nieder, weil sich ihre wirtschaftliche Lage zunehmend
42 Elke Fein: Geschichtspolitik in Russland. Chancen und Schwierigkeiten ei-
ner demokratisierenden Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit am
Beispiel der Tätigkeit der Gesellschaft Memorial, Münster/Hamburg 2000.
43 Sämtliche Beiträge und Reden der 19. Parteikonferenz sind gedruckt in:
Offene Worte. Sowjetunion, Sommer 1988. Gorbatschow, Ligatschow, Jel-
zin und 4991 Delegierte diskutieren über den richtigen Weg, Nördlingen
1988.
44 Altrichter (wie Anm. 38), S. 123–204.