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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

Zukunft, um damit alle nationalen Bezüge zu überwölben

und letztlich über kurz oder lang obsolet zu machen. 

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Allerdings waren in den Sowjetrepubliken nationale

Sozialismusinterpretationen und ein nationales Selbst-

bewusstsein als wirkungsmächtige gesellschaftliche Refe-

renzsysteme entstanden. Die Menschen sahen dort daher

nicht ein, warum sie ihre eigene, als eine feste historische

Größe wahrgenommene Nation zugunsten der eingefor-

derten sowjetischen Einheitsideologie aufgeben und sich

dem Primat des Russischen fügen sollten. Die Identifi-

kation mit dem eigenen autonomen Territorium als dem

vorrangigen identitätspolitischen Spielfeld wuchs; die

Verbundenheit mit dem sowjetischen Gesamtstaat verlor

dadurch an Bedeutung. Aus der Mitte des Sowjetsystems

heraus entwickelte sich so ein ethnischer Aktivismus. 

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55 Ben Fowkes: The National Question in the Soviet Union under Leonid

Brezhnev. Policy and Response, in: Edwin Bacon/Mark Sandle (Hg.): Brezhnev

Reconsidered, Basingstoke 2002, S. 68–89.

56 Maike Lehmann: Eine sowjetische Nation. Nationale Sozialismusinterpre-

tationen in Armenien seit 1945, Frankfurt am Main 2012; Malte Rolf: Die

Nationalisierung der Sowjetunion. Indigenisierungspolitik, nationale Ka-

der und die Entstehung von Dissens in der Litauischen Sowjetrepublik der

Ära Brežnev, in: Boris Belge/Martin Deuerlein (Hg.): Goldenes Zeitalter der

Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische Ordnung der Breschnew-

Ära, Tübingen 2014, S. 203–230.

Nachdem die widersprüchliche Nationalitätenpolitik

des Kremls schon zuvor Reibungsflächen geschaffen und

die Lunte ausgelegt hatte, fing diese nach 1985 Feuer

und führte damit zur „Explosion des Ethnischen“. 

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Dazu trug vor allem bei, dass die Instrumente der auto-

ritären Einheitsbewahrung zerbrachen, weil die Partei

als die das sowjetische Imperium zusammenhaltende

Klammer durch Glasnost ihre Legitimität und Autorität

verloren hatte. Zudem erwies sich die Idee vom geeinten

Sowjetvolk immer mehr als Doktrin ohne Entsprechung

in der Wirklichkeit. Die Bindekraft des Sowjetpatriotis-

mus ließ spürbar nach, als sich in den einzelnen Sowjet-

republiken starker sozialer Protest gegen das Moskauer

Wirtschaftsdiktat und die durch das zentralisierte Kom-

mandosystem herausgerufenen enormen ökologischen

Schäden artikulierte. Die Sowjetrepubliken stellten

sich – oftmals einseitig und über Gebühr – als ausge-

beutete Kolonien dar, die durch den sozialistischen

Imperialismus Moskaus sowohl ihrer Naturschätze

und Wirtschaftskräfte als auch ihrer Selbstbestimmung

57 Uwe Halbach: Nationalitätenfrage und Föderation. Die „Explosion des

Ethnischen“ in der Sowjetunion, in: Osteuropa 40 (1990), S. 1011–1024.

Militärparade auf dem Roten Platz zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution, November 1987

Foto: ullstein bild/Sputnik