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Das britische EU-Referendum

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

die Entwicklung der EG nach Verabschiedung der EEA

keinen Hehl. In ihrer Rede am Europakolleg in Brügge

am 20. September 1988 forderte Thatcher ein Europa der

souveränen Zentralstaaten und warnte vor der politischen

Zentralisierung Europas, die Gefahr laufe in einen zen-

tralisierten europäischen Superstaat unter der Dominanz

der Europäischen Kommission zu münden. In diesem

Zusammenhang machte Thatcher deutlich, dass sie sich

dieser Zentralisierung vehement widersetzen würde: „Wir

haben die staatlichen Schranken in Großbritannien nicht

mit Erfolg zurückgedrängt, ummitanzusehen, dass sie jetzt

auf der europäischen Ebene wieder eingeführt werden, in

Verbindung mit einem europäischen Superstaat, der von

Brüssel aus eine neue Vormachtstellung ausübt“. 

15

That-

chers Position verlieh damit der Ansicht der Mehrheit der

Briten Ausdruck, die als positiven Zweck der Europäischen

Gemeinschaft stets die Schaffung einer liberalisierten Frei-

handelszone gesehen haben. 

16

Die von den Kontinental-

europäern parallel betriebene politische Integration wurde

weitgehend abgelehnt.

Thatcher definierte mit ihrer auf nationalstaatliche In-

teressen ausgerichteten europäischen Diplomatie die bis

heute gültigen Prinzipien der britischen Europapolitik.

Sie definiert sich vor allem in Abgrenzung zu den mul-

tilateralen Entscheidungsprozessen im politischen Meh-

rebenensystem, die im deutlichen Kontrast zu den auf

dem

„first-past-the-post“

Mehrheitswahlrecht basierenden

schnellen Entscheidungsprozessen einer im Normalfall

bestehenden Einparteienregierung stehen. Die zentralen

Elemente der britischen Westminster-Demokratie bil-

den die Parlamentssouveränität

(„crown in parliament“),

die ungeschriebene und auf Konventionen beruhende

Verfassung und die trotz der teilweisen Dezentralisierung

(„Devolution“)

von Entscheidungsprozessen in die Regio-

nen Schottland, Wales und Nordirland noch immer stark

zentralisierte Exekutivregierung in Westminster. 

17

Diese

Prinzipien stehen in starkem Kontrast zur EU, deren recht-

licher Rahmen auf einem komplexen und schriftlichen fi-

xierten Vertragsgefüge basiert und deren Entscheidungs-

prozesse aufgrund der Einbeziehung multipler Akteure

generell langwierig und auf Konsens angewiesen sind.

15 Margaret Thatcher: Speech to the College of Europe. „The Bruges Speech“, 20.09.1988, http://www.margaretthatcher.org/document/107332 [Stand: 09.06.2016]

16 Margaret Thatcher: Statecraft, London 2002, S. 372.

17 David Sanders: The Reluctant Europeans. Britain and the EU, 1952–2014,

Augsburg 2015, S. 29ff.

Die eng definierten Rahmenbedingungen der britischen

Europapolitik

Aus britischer Sicht geht es bei der Europapolitik deshalb

vor allem um die Verteidigung nationaler Souveränität

und nicht maßgeblich um multilaterale Kooperation. Die

britischen Europaskeptiker sind hauptsächlich in der Kon-

servativen Partei, der

United Kingdom Independence Party

(UKIP), vertreten. Sie werden tatkräftig von den im Besitz

des australischen Medienmoguls Rupert Murdoch befindli-

chen Printmedien und Nachrichtensendern unterstützt und

sehen es als ihre Aufgabe, das europapolitische Vermächtnis

Margaret Thatchers im Sinne des Mottos „Wir gegen die

Anderen!“ weiterzutragen. Teil dieses Erbes ist auch die

Glorifizierung der angeblich privilegierten Partnerschaft

(

special relationship

) der Briten mit den Vereinigten Staaten

von Amerika und die nostalgische Fokussierung auf die dip-

lomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit den

Staaten des Commonwealth, des ehemaligen britischen

Empires. 

18

Zudem assoziieren vor allem die Europaskep-

tiker in England die Europäische Union mit der Domi-

nanz Deutschlands. Diese Furcht vor einem „deutschen

Europa“ wurde bereits von Thatcher häufig artikuliert.

Thatcher nannte in ihren nach dem Ende ihrer Amtszeit als

Premierministerin veröffentlichten politischen Memoiren

Deutschland eine „destabilisierende Kraft“ in Europa, die

zwischen „Aggression und Selbstzweifeln“ schwanken und

letztendlich immer zur Dominanz tendieren würde. 

19

That-

cher ließ es noch als Premierministerin zu, dass Nicholas

Ridley, ihr damaliger Minister für Handel und Industrie,

im Juli 1990 in einem Interview mit der Zeitschrift

Specta-

tor

die Europäische Gemeinschaft als deutsches Mittel zum

Zweck der Unterwerfung Europas brandmarkte. Ridley rief

durch seine Äußerung, dass der Transfer von Souveränität

an die EG der Unterwerfung unter Hitlers Nazi-Deutsch-

land gleichkomme, nicht nur bei Großbritanniens euro-

päischen Partnern Wellen der Empörung hervor. 

20

Doch

anti-deutsche Ressentiments ziehen sich seit Thatcher wie

ein roter Faden durch die Positionen der Europaskeptiker.

Prominente konservative Europaskeptiker wie John Red-

wood werden nicht müde, vor der Gefahr der Unterdrü-

ckung Großbritanniens durch ein zunehmend hegemoni-

18 Reginald Hibbert: Britain in search of a role, 1957–73: A role in Europe,

European integration and Britain: a witness account, in From Reconstruction

to Integration: Britain and Europe since 1945, hg. v. Brian Brivati und Harriet

Jones 1993, S. 114–122, hier S. 115; Christian Schweiger: Britain, Germany

and the Future of the European Union, Basingstoke 2007, S. 31–37.

19 Margaret Thatcher: The Downing Street Years, Glasgow 1993, S. 791.

20 Britain and European Integration 1945–1998. A Documentary History, hg.

v. David Gowland und Arthur Turner 2000, S. 178.