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Das britische EU-Referendum

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

„See EU later“,

titelte die Boulevardzeitung

The Sun

am

Tag nach der Entscheidung des historischen Referendums

zur EU-Mitgliedschaft, das Großbritannien am 23. Juni

dieses Jahres abgehalten hat. Es war bereits das zweite

Mal seit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft am

1. Januar 1973, dass die Briten über die Mitgliedschaft

abgestimmt haben. Die Vorgeschichte und die Rahmen-

bedingungen dieses nicht nur für das Land selbst epocha-

len Ereignisses gestalteten sich allerdings komplexer als

beim ersten Referendum am 5. Juni 1975. Eine Mischung

außen- und innenpolitischer Faktoren spielte dabei eine

Rolle. Beim ersten Referendum zur EG-Mitgliedschaft im

Juni 1975 hatten 67,5 Prozent der Wahlberechtigten für

den Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft gestimmt,

nachdem sich mehrheitlich die Meinung durchgesetzt

hatte, dass der Verbleib Großbritanniens im europäischen

Binnenmarkt für die britische Wirtschaft von Vorteil sei.

Schon allein die Tatsache, dass bereits zwei Jahre nach

dem offiziellen Beitritt ein Referendum über die Zukunft

der Mitgliedschaft abgehalten wurde, zeigt deutlich, wie

schwer sich die Briten stets mit der Integration in die insti-

tutionalisierte europäische Zusammenarbeit getan haben.

Das schwierige europapolitische Erbe Großbritanniens

Im Gegensatz zu den meisten Mitgliedstaaten der EU hat

sich in Großbritannien nie ein umfassender pro-europäi-

scher politischer Konsens entwickelt. Winston Churchill

propagierte nach dem Ende des ZweitenWeltkriegs in seiner

berühmten Züricher Rede am 19. September 1946 noch die

„Vereinigten Staaten von Europa“ – doch Großbritannien

sollte nicht Teil dieses Konstrukts sein. 

1

Für Churchill selbst

hatten die Beziehungen zu Kontinentaleuropa keineswegs

Priorität. Im Rahmen der von ihm definierten drei konzen-

trischen Kreise der britischen Außenpolitik stand Europa an

letzter Stelle. Stattdessen wurde den transatlantischen Bezie-

hungen mit den Vereinigten Staaten (der

„special relation-

ship“)

und den Beziehungen mit den Staaten des Britischen

Commonwealth, Priorität eingeräumt. Das Engagement in

Europa wurde in Blick auf die weltpolitischen Interessen

Großbritanniens als nicht förderlich erachtet. 

2

Die politische

Elite Großbritanniens, so wie auch die Öffentlichkeit, war in

der Frage der Mitgliedschaft in der EG/EU stets gespalten.

Man war nicht nur geographisch vom Kontinent getrennt,

was durch den oft benutzten Slogan in den Medien und im

1 Winston Churchill: Rede in Zürich, 19.09.1946, http://www.churchill

-

society-london.org.uk/astonish.html [Stand: 06.07.2016]

2 Wolfram Kaiser: Using Europe, Abusing the Europeans: Britain and Euro-

pean Integration, 1945–63, Basingstoke/London 1998 (1996), S. 2.

Wetterbericht

„fog in the channel – continent cut off“

deutlich

wurde und sich seit dem Zweiten Weltkrieg im britischen

Selbstbewusstsein eingeprägt hat. Für die Briten hatte das

Engagement in Europa nie Priorität, weil sie stets davon

überzeugt waren, dass Großbritannien als ehemalige Koloni-

almacht seine globalen Beziehungen ausbauen sollte, anstatt

sich auf Europa zu beschränken. In der Folge fiel die Zustim-

mung zur europäischen Integration in Großbritannien seit

dem Beitritt 1973 permanent geringer aus als in anderen

Mitgliedstaaten. Besonders seit dem in der britischen Innen-

politik äußerst kontrovers diskutierten Maastrichter Vertrag

zeichnete sich eine weitere, deutliche Abwendung von der

europäischen Idee ab. Der Maastrichter Vertrag – am 7. Feb-

ruar 1992 von den EG-Mitgliedsstaaten unterzeichnet und

erst am 1. November 1993 ratifiziert – bedeutete einen

deutlichen Schritt in Richtung tiefere Integration und kann

durchaus als Wendepunkt in Richtung der zunehmenden

Europaskepsis in Großbritannien bewertet werden. 

3

Die

Ratifizierung des Maastrichter Vertrages gestaltete sich in

Großbritannien äußerst schwierig, da sie die unversöhnliche

europapolitische Spaltung in der Konservativen Partei offen-

barte und beinahe zum Sturz der konservativen Regierung

von Premierminister John Major geführt hätte. Die Euro-

paskeptiker in der Konservativen Partei lehnten den Vertrag

wegen der Schaffung der Drei-Säulen-Struktur der Europä-

ischen Union ab, die sie als deutlichen Schritt in Richtung

politische Union bewerteten. Zudem gab es fundamentale

Bedenken bezüglich der Konkretisierung der europäischen

Währungsunion und der Perspektive der Abschaffung des

britischen

Pound Sterling

. Bereits zuvor wurde unter der

Führung von Majors Vorgängerin Margaret Thatcher nicht

nur die Skepsis gegenüber der Europäischen Gemeinschaft,

sondern sogar ihre offene Ablehnung salonfähig. Dabei war

eigentlich die Labour-Partei bis in die späten 1980er Jahre

die europaskeptische Kraft in der britischen Innenpoli-

tik gewesen. Labour stand unter dem starken Einfluss der

Gewerkschaften und des radikalen linken Flügels der Partei,

der hauptsächlich durch den Europaskeptiker Tony Benn

vertreten wurde. Die Labour-Regierungen unter dem Pre-

mierministern Wilson und Callaghan (1974–79) mussten

sich deshalb mit der Opposition des von den Gewerkschaf-

ten dominierten linken Parteiflügels gegenüber der Mit-

gliedschaft in der EG auseinandersetzen. Der linke Labour-

Flügel betrachtete die Mitgliedschaft äußerst skeptisch, da

die EG als von kapitalistischen Prinzipien bestimmte Orga-

3 David Sanders: The Reluctant Europeans. Britain and the EU, 1952–2014, in:

Drifting towards the exit?. Taking Stock of Britain‘s EU Membership after 40

years, hg. v. Christian Schweiger, Augsburg 2015, S. 9–36, hier: S. 10.