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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
ging, Veränderungen einzuleiten, er aber keine klaren
Vorstellungen davon hatte, wohin sie führen würden. Die
Reformer vertrauten ganz auf ein „Learning by Doing“.
Unter diesen Gesichtspunkten erscheinen Perestroika,
Glasnost und Demokratisierung weniger als zielgerichtete
Reformprogramme, sondern vielmehr als politische Expe-
rimente mit unklarem Ausgang.
Kollaps statt Reform: Das Sich-Selbst-Belügen im
Kreml und die antisowjetische Massenmobilisierung
Als Gorbatschow in den Kreml einzog, befand sich die
Sowjetunion zwar in einer schwierigen Lage, sie war aber
keineswegs zum Auseinanderbrechen verdammt.
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Das
neue Reformteam im Kreml ging von einer stagnativen
Stabilität aus und musste dank Glasnost erst auf bittere
Weise lernen, dass hinter jeder Absurdität des sowjeti-
schen Alltagslebens eine ernste Geschichte steckte und
schwere systemische Probleme standen. Angesichts der
91 Malek (wie Anm. 84).
vielen offengelegten Konflikte und Mängel gestand Gor-
batschow schon 1988 ein, dass es bei der Perestroika
„mehr Fragen als Antworten gibt“. Sibyllinisch sprach er
von der „Dynamik komplizierter Prozesse“.
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Im Rück-
blick gab Gorbatschow – ohne an der Richtigkeit seines
damaligen politischen Handelns grundsätzlich zu zwei-
feln – selbstkritisch zu, keinen Ausweg aus der Wirt-
schaftsmisere gefunden und die Beharrungskräfte der ver-
schlissenen Parteistaatsmaschinerie sowie die Sprengkräfte
des Ethnischen fahrlässig unterschätzt zu haben. Deshalb
hätte er in der zweiten turbulenten Phase der Perestroika
zunehmend den Zugriff auf die gesellschaftlichen Ent-
wicklungen verloren. In der Druckkammer öffentlicher
Empörung ließe sich nur schwer Politik gestalten.
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Dem
folgend beschrieb der vormalige ungarische Dissident
György Dalos den Kreml zur Zeit Gorbatschows als ein
Machtlabyrinth, „in dem der Machthaber ein potenzieller
92 Gorbatschow (wie Anm. 2), S. 18.
93 Gorbatschow (wie Anm. 81), S. 509f.
Das Ende: Gorbatschow gibt in einer Live-Fernsehansprache seinen Rücktritt bekannt, 25. Dezember 1991.
Foto: picture alliance/dpa-Bildarchiv