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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

andere Argumente für ihre Weltsicht. Antikommunis-

ten betonen, dass Gorbatschow als bedeutendster sozia-

listischer Reformer die prinzipielle Reformunfähigkeit

des überkommenen Sowjetsystems offenbart hätte. Ein

Sozialismus mit menschlichem Antlitz sei schlichtweg

unmöglich. Entschiedene Verfechter von Demokra-

tie und Marktwirtschaft werfen Gorbatschow ein „Zu

wenig“ an Reform und sein langes Festhalten an über-

kommenen ökonomischen sowie politischen Ordnungs-

vorstellungen vor. Den Befürwortern einer starken

Staatlichkeit gingen die Reformen Gorbatschows hin-

gegen viel zu weit. Perestroika und Glasnost hätten die

Säulen der Moskauer Machtvertikalen geschwächt und

damit ein Durchregieren nach chinesischem Vorbild

verhindert. 

87

In Umbruchssituationen würden Demo-

kratisierung und Offenheit zwar neue Freiheitsrechte,

aber auch erhebliche Ordnungsverluste und damit

Chaos heraufbeschwören. Diese Interpreten eines auto-

ritären Zeitgeists – ob sie in Moskau oder an westlichen

Universitäten auf Lehrstühlen sitzen – stimmen nolens

volens nicht nur in das Klagelied über die angeblich

destabilisierenden Folgen der liberalen Weltordnung

ein. Sie müssen sich darüber hinaus vorhalten lassen,

die Gestaltungspotentiale demokratischer Systeme zu

verkennen und außer Acht zu lassen, dass die ehema-

87 Zum Vergleich zwischen den sowjetischen und chinesischen Reformen

vgl. Shiping Hu: The Deng Reforms (1978–1992) and the Gorbachev Re-

forms (1985–1991), in: Problems of Post-Communism 53 (2006), Nr. 3,

S. 3–16.

ligen Ostblockländer und die baltischen Staaten, die

ganz entschieden auf Demokratie und Marktwirtschaft

gesetzt haben, heute eine deutlich bessere Transformati-

onsbilanz vorweisen können als diejenigen Länder, die

wieder zu autoritären Regimen zurückgekehrt sind. 

88

Gerade das heutige Russland, das sich unter Putin offen-

sichtlich am chinesischen Weg orientiert, zeigt, dass ein

neoimperiales Staatswesen mit einer gelenkten Demo-

kratie und einer staatlich wieder stärker bevormundeten

Wirtschaft es nicht vermag, Modernisierungsblockaden

zu lösen und auf nachhaltige Weise Wachstum, Fort-

schritt und Freiheit zu garantieren.

So unterschiedlich die Interpretationen zum Zusam-

menbruch der Sowjetunion auch sein mögen, einig

sind sie sich in zwei Punkten: Zum einen lässt sich die

Zerfallsgeschichte nur stichhaltig erklären, wenn die

unterschiedlichen desintegrativen Prozesse – der öko-

nomische Absturz, der ideelle Kollaps, die politische

Paralyse und der territoriale Zerfall – in ihrem Wech-

selspiel untersucht und ihre jeweilige, sich verändernde

Relevanzen sorgsam abgewogen werden. Zum anderen

scheiden sich an Gorbatschow zwar die Geister, aber

niemand stellt seine zentrale Rolle für die Zeit nach

1985 in Frage. Als Vertreter einer neuen, aufgeschlos-

senen Generation sowjetischer Parteifunktionäre ging

er bewusst das Wagnis ein, die Sowjetunion mit einem

Reformkreuzzug auf neue Grundlagen zu stellen, um

den Sozialismus für das 21. Jahrhundert wieder kon-

kurrenzfähig zu machen.

Das „Gorbatschow-Paradox“ 

89

– nämlich die Vergöt-

terung im Ausland und die Verteufelung im Inland –

erklärt sich daraus, dass die Rhetorik der sozialistischen

Menschheitsbeglückung, die der dynamisch auftretende

Kremlchef im Übermaß von sich gab, bald zu gesellschaft-

lichen Überdruss führte, weil seine Perestroika einfach

nicht in die Erfolgsspur kam. Je schneller Gorbatschow

und sein Team am Reformrad drehten, desto evidenter

wurde, dass sie zwar schöne Visionen, aber weder einen

Masterplan noch ausgearbeitete Konzepte für die von

ihnen gewollte Umgestaltung parat hatten. Gorbatschows

viel bemühte politische Phrase „Der Prozess ist in Gang

gekommen“ 

90

unterstrich, dass es ihm vor allem darum

88 Vgl. Ther (wie Anm. 20); Günther Heydemann/Karel Vodička (Hg.): Vom

Ostblock zur EU. Systemtransformationen 1990–2012 im Vergleich, Bonn

2013.

89 Dmitri Wolkogonow: Die sieben Führer. Aufstieg und Untergang des Sow-

jetreichs, Frankfurt am Main 2001, S. 456.

90 Vgl. z.B. Gorbatschow (wie Anm. 2), S. 37.

Jelzin diktiert Gorbatschow das Dekret zum Verbot der KPdSU, 23. August 1991.

Foto: ullstein bild/Sarembo