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Von der Perestroika zur Katastroika, Teil 2
Einsichten und Perspektiven 2 | 16
Gefangener wird, ohne den berühmten Ariadnefaden, den
Wegweiser ins Freie zu besitzen“.
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In der Chronologie des Zusammenbruchs stellte das
turbulente Jahr 1989 auch in der Sowjetunion einen
Wendepunkt dar. Der Moskauer Parteistaat geriet damals
immer tiefer in seine Finalitätskrise. Gorbatschow ent-
wickelte sich vom mutigen Antreiber und vorpreschen-
den Reformer immer mehr zum Getriebenen und zum
unglücklich agierenden Krisenmanager. Längst erwie-
sen sich der Kremlchef und die in sich zerspaltenen Par-
tei- und Staatskader nicht mehr als die einzigen Akteure
der Umgestaltung. Viele Menschen nutzten die ihnen
zugestandenen politischen Mitgestaltungsmöglichkeiten
immer aktiver, um „von unten“ auf die „von oben“ ein-
geleiteten politischen Wandlungsprozesse massiven Ein-
fluss zu nehmen und ihnen damit oftmals eine andere
Richtung oder eine andere Dynamik zu geben. Die Tiefe
und die Dynamik der antisowjetischen Massenmobi-
lisierung beschworen zunehmend die Unaufhaltsam-
keit des Zerfalls herauf.
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Rückblickend sprach Gorbat-
schows enger Vertrauter Alexander Jakowlew von einem
schmerzvollen Prozess der Entzauberung und Entmach-
tung, weil „wir uns gegenseitig belogen haben, als wir
sagten, dass die Freiheit den Sozialismus nicht nur zer-
stören, sondern ihm zugutekommen wird“.
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Es waren
die vom Kreml ermöglichten, aber bald nicht mehr kon-
trollierbaren gesellschaftlichen Selbstläufe und Kettenre-
aktionen, die mit ihrer atemberaubenden Geschwindig-
keit maßgeblich zum „kurzen Weg von der Krise zum
Kollaps“
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beitrugen.
Bei seinem wagemutigen, aber auch wenig durch-
dachtem Versuch, die Sowjetunion zu liberalisieren und
zu demokratisieren, ist Gorbatschow an sich selbst auf
tragische und zugleich auf glanzvolle Weise gescheitert.
Statt sich zu reformieren, kollabierte die sowjetische
Ordnung, weil es ihr offensichtlich an Reforminstru-
menten mangelte, um die auseinanderdriftenden Kräfte
zusammenzuhalten. Die ehrgeizige Perestroika hatte ihr
Erfinder im Kreml als einmalige Chance beschrieben, um
die Gesellschaft für eine „demokratische Atmosphäre zu
kultivieren“ und für die dazu notwendige Umgestaltung
zu begeistern. „Ein zweites Mal werden wir unser Volk
94 Dalos (wie Anm. 23), S. 22.
95 Simon (wie Anm. 74), List der Geschichte (wie Anm. 10), S. 122–126 u.
131; Ther (wie Anm. 20), S. 63ff.
96 Zit. nach Martin Malek/Anna Schor-Tschudnowskaja: Das Ende des gro-
ßen Experiments, in: dies. (wie Anm. 49), S. 15–25, hier S. 18.
97 Huber (wie Anm. 3), S. 57.
für ein Unternehmen dieses Ausmaßes einfach nicht
mehr mobilisieren können.“
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Bislang hat Gorbatschow
mit dieser Prognose leider Recht behalten. Die antisow-
jetische Mobilisierung bildete vielerorts keine tragfähige
Basis für den Aufbau einer Demokratie. Im Gegenteil:
In den Wirren der Transformation der 1990er Jahre kam
vielen Russen die Lust auf Demokratie abhanden. Selbst
der einflussreiche Chefredakteur einer führenden Lite-
raturzeitschrift, Jurij Poljakow, meint mittlerweile, dass
die dank Glasnost ermöglichte „Freiheit des Wortes die
Zerschlagung des Landes nicht wert gewesen war“.
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Diese Deutung verspielt leider fahrlässig das demo-
kratische Erbe der Perestroika, das auch darin besteht,
den Menschen bewusst zu machen, dass sie ihr Leben
selbst bestimmen können und sich nicht vom Kreml zu
Gefangenen der eigenen Ängste und Phantomschmerzen
machen lassen müssen.
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98 Gorbatschow (wie Anm. 2), S. 40.
99 Malek (wie Anm. 84), S. 52.
100 Zur Wirksamkeit der heutigen Kreml-Propaganda vgl. das aufschlussreiche Interview mit dem russischen Soziologen Lew Gudkow, der das renommierte Moskauer Lewada-Zentrum leitet, unter http://www.bpb.de/internationales/ europa/russland/219422/interview-ueber-die-wirksamkeit-der-propaganda- in-russland [Stand: 04.03.2016].