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Das britische EU-Referendum

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

hang zog die

Vote-Leave-

Kampagne das bilaterale Abkom-

men zwischen der EU und der Türkei. Boris Johnson und

Nigel Farage warnten die britische Öffentlichkeit, der Ver-

bleib in der EU würde die effektive Kontrolle der britischen

Grenzen unmöglich machen. Zudem betonen Johnson,

Farage und weitere führende Vertreter von

Vote Leave

, dass

Großbritannien letztendlich den Beitritt der Türkei zur EU

nicht verhindern könne, obwohl dieser natürlich nur durch

einen einstimmigen Beschluss aller 28 Mitgliedsstaaten im

Rat möglich würde. Die europaskeptischen Medien nutzten

dieses Thema im Rahmen ihrer Brexit-Kampagne gegen die

EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit. Ein Paradebeispiel war das

europaskeptische Massenblatt

Express

, das am 24. Mai mit

der Ankündigung aufmachte, dass beim Verbleib in der EU

zwölf Millionen Türken nach Großbritannien einwandern

würden. 

34

Die von Cameron angeführte Pro-EU-Kampagne

Stronger In

beschränkte sich bis zu diesem Zeitpunkt haupt-

sächlich darauf, vor den negativen Folgen des Brexit für die

britische Wirtschaft und die Lebenshaltungskosten zu war-

nen.

Stronger In

wurden von den Medien deshalb haupt-

sächlich als Angstkampagne gebrandmarkt. Camerons War-

nung vor dem „Schritt ins Ungewisse“ fand bei denWählern

dagegen nur in begrenztem Maß Zuspruch. Die von Teilen

der Medien und der

Vote Leave

Kampagne geförderte Kon-

zentration auf das Thema Zuwanderung führte letztendlich

dazu, dass die öffentliche Debatte sich deutlich polarisierte.

Bis zu der tragischen Ermordung der Labour-Abgeord-

neten Jo Cox nur eine Woche vor der Abstimmung am 16.

Juni durch einen rechtsradikalen Aktivisten zeigte sich in

den Umfragen ein deutlich wachsender Zuspruch für die

Argumente von

Vote Leave

. Der Einfluss von

Stronger In

wurde darüber hinaus dadurch geschwächt, dass weder die

Labour-Partei noch die Liberaldemokraten über führende

charismatische Persönlichkeiten verfügten.

Die Umfragen zum Referendum deuteten schon im

Vorfeld auf ein Kopf-an-Kopf Rennen zwischen Gegnern

und Befürwortern des Brexit hin, beim dem das Zünglein

an der Waage letztendlich die Wahlbeteiligung jüngerer

Wähler sein würde.

Die knappe Entscheidung für den Brexit mit 51,9 Pro-

zent der Stimmen der teilnehmenden Wahlberechtigten

gegenüber 48,1 Prozent, die für den Verbleib in der EU

stimmten, kam letztendlich durch die geringe Wahlbetei-

ligung bei jüngeren Wählern und die überraschend starke

34 Caroline Wheeler und Nick Gutteridge: Exlusive Poll. 12 million Turks say

they‘ll come to the UK once EU deal is signed, Daily Express v. 24.05.2016,

http://www.express.co.uk/news/uk/672563/Turkey-EU-Britain-exclusive-

poll-crime-figures-Turks [Stand: 14.06.2016].

Unterstützung für den Brexit in Nordengland und Wales

zustande. Offizielle Wahlanalysen des Referendums zeigen,

dass jüngere Wähler unter 45 Jahren mehrheitlich für den

Verbleib in der EU votierten. Die Zustimmung zur EU

war besonders stark bei den 18- bis 24-Jährigen, die mit 73

Prozent für den Verbleib in der EU waren. Im Gegensatz

dazu stimmten 60 Prozent der über 65-Jährigen für den

Brexit. Die Wahlbeteiligung in Wahlbezirken mit mehr-

heitlich jüngeren Einwohnern war jedoch deutlich gerin-

ger als in denen mit einer älteren Bevölkerung. Zudem

stimmten nur London (59,9 Prozent), Schottland (62 Pro-

zent) und Nordirland (55,8 Prozent) mehrheitlich für den

Verbleib in der EU. Alle anderen Regionen Großbritan-

niens votierten für den Brexit, besonders deutlich in den

englischen Regionen West Midlands (59,3 Prozent), York-

shire (57,7 Prozent), East Midlands (58,8 Prozent) und im

Nordosten Englands (58 Prozent). Wales stimmte mit 52,5

Prozent für den Brexit. 

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DieWerte in den englischen Regi-

onen erklären sich damit, dass vor allem die wirtschaftlich

ärmeren Regionen den Argumenten von

Vote Leave

gefolgt

sind, die im Falle des Brexit den deutlichen Rückgang von

Zuwanderung aus der EU und dadurch bedingt bessere

Arbeitsmarktbedingungen für gering qualifizierte englische

Arbeitnehmer versprochen hatten.

Welche Folgen die Entscheidung für den Brexit auf

lange Sicht für die Zukunft Großbritanniens und der EU

insgesamt haben wird, ist heute noch kaum absehbar. Mit

Sicherheit werden die Austrittsverhandlungen schwierig

und potentiell auch langwierig, vor allem falls die briti-

sche Regierung beabsichtigt, auch nach dem Austritt den

Zugang zum EU-Binnenmarkt sicherzustellen. Nach Arti-

kel 50 des Vertrages von Lissabon muss Großbritannien

nach dem Referendum offiziell den Antrag auf den Aus-

tritt aus der EU stellen. Die Bedingungen für den Aus-

tritt werden dann innerhalb von zwei Jahren von den 27

verbleibenden Mitgliedstaaten in Kooperation mit dem

Europäischen Parlament mit qualifizierter Mehrheit ent-

schieden. 

36

Die britische Regierung kann dabei versuchen,

in bilateralen Verhandlungen mit der Europäischen Kom-

mission einen Sonderstatus außerhalb der EU zu erhalten.

Die Entscheidung liegt letztendlich bei den verbleibenden

27 Mitgliedsstaaten. Der von der

Vote-Leave-

Kampagne

auch nach dem Austritt in Aussicht gestellte fortbestehende

35 BBC News: EU referendum: The results in maps and charts, 24.06.2016,

http://www.bbc.co.uk/news/uk-politics-36616028

[Stand: 07.07.2016].

36 Europäische Union: Vertrag von Lissabon unterzeichnet am 13.12.2007,

Artikel 50,

http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ

:C:

2007:306:FULL&from=DE [Stand: 14.06.2016].