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Das britische EU-Referendum

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

Sowohl für Großbritannien als auch für die EU stand beim

britischen Referendum viel auf dem Spiel. Die EU wird

es in ihrem andauernden kritischen Zustand nur schwer

verkraften können, den drittgrößten Mitgliedstaat und

einen substantiellen Beitragszahler zum EU-Haushalt zu

verlieren. Zwar könnte man argumentieren, dass ohne den

oftmals schwierigen britischen Partner die Vertiefung der

politischen Zusammenarbeit zwischen den verbleibenden

Mitgliedstaaten eventuell erleichtert werden könnte. Diese

Sicht verkennt jedoch die zentrale Rolle Großbritanniens

für die außen- und sicherheitspolitischen Stellung der EU

und als Verfechter der Dezentralisierung und der globalen

Wettbewerbsfähigkeit der EU. Vor allem die Mitgliedstaa-

ten in Osteuropa, denen diese Politikbereiche sehr amHer-

zen liegen, appellieren deshalb an die britische Öffentlich-

keit, sich weiterhin in der EU zu engagieren. Die Staaten in

der Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, die Tschechien und

die Slowakei) sehen die fortdauernde britische Mitglied-

schaft als essentiell für die Bewältigung der vielen schwie-

rigen Herausforderungen, vor denen die EU steht, an. 

40

Auch Deutschland hat ein grundlegendes Interesse am

Verbleib Großbritanniens in der EU, da es dringend starke

Partner braucht, um die internen und externen Heraus-

forderungen der EU zu bewältigen. Weder Polen, Italien

Spanien sind derzeit aus politischen und wirtschaftlichen

Gründen in der Lage, einen substantiellen Beitrag zur Füh-

rung der EU zu leisten. Dies trifft in gewissem Maße auch

auf das deutlich wirtschaftlich geschwächte Frankreich zu.

Trotz dieser Umstände wird Großbritannien bei den

Verhandlungen über den Austritt auf wenig Konzessionsbe-

reitschaft stoßen, vor allem falls die Forderungen der Brexit-

Befürworter in vollemMaße umgesetzt werden sollen. Füh-

rende

Vote-Leave

-Vertreter haben angekündigt, dass sie im

Zuge der Neuverhandlungen die Personenfreizügigkeit zwi-

schen Großbritannien und der EU zur Disposition stellen

zu wollen. In diesem Fall kann die britische Regierung kei-

nerlei Entgegenkommen bezüglich des freien Handels mit

dem EU-Binnenmarkt erwarten. Vor allem die osteuropä-

ischen Mitgliedstaaten, deren in Großbritannien lebenden

Bürger von der Einschränkungen der Personenfreizügigkeit

in großer Zahl betroffen wären, werden sich in diesem Fall

gegen jegliche Konzessionen für Großbritanniens Status

gegenüber der EU nach dem Austritt stellen.

Der 23. Juni 2016 war eine historische Zäsur, bei der die

britischen Wähler nicht nur über die Rolle Großbritanni-

40 Visegrád Group: Joint Declaration of the Visegrád Group Prime Ministers,

Prag 08.06.2016,

http://www.visegradgroup.eu/documents/official-state-

ments/joint-declaration-of-the-160609 [Stand: 14.06.2016].

ens in Europa, sondern auch über die zukünftige Verfassung

der EU insgesamt abstimmt haben. Die britischen Wähler

haben sich mit knapper Mehrheit dafür entschieden den

europapolitischen Status Quo hinter sich zu lassen und, um

mit David Camerons Worten zu sprechen, den „Schritt ins

Ungewisse“ zuwagen. Diese Entscheidung hat bereits wenige

Tage danach zu einem bisher nicht dagewesenen innenpoli-

tischen Chaos im Land geführt, bei dem sowohl die regie-

rende Konservative Partei als auch die oppositionelle Labour

Partei in tiefe innerparteiliche Führungskämpfe gestürzt

wurden. Nach der Wahl des neuen Parteivorsitzenden der

Konservativen im Oktober wird es zudem höchstwahr-

scheinlich Neuwahlen geben. Großbritannien wird folglich

noch viele Monate brauchen, um sich innenpolitisch zu

konsolidieren und eine tragfähigen Verhandlungsposition

für den Austritt aus der EU zu finden. Aufgrund der knap-

pen Entscheidung für den Brexit und der bereits nach weni-

genTagen gravierenden wirtschaftlichen Folgen mit starkem

Kursverlust des britischen

Pound Sterling

gegenüber dem

Dollar und Euro sowie der Wahrscheinlichkeit einer baldi-

gen wirtschaftlichen Rezession im Land kann es auch nicht

völlig ausgeschlossen werden, dass die neue Regierung sich

unter wachsendem öffentlichen Druck dazu entscheidet, ein

neuerliches Referendum über die offizielle Verhandlungspo-

sition oder letztendlich über die Verhandlungsergebnisse mit

der EU abzuhalten. Ob der Brexit letztendlich kommt und

welche langfristigen Folgen er haben wird, kann zum heu-

tigen Zeitpunkt niemand sagen. Mit Gewissheit hat die

Entscheidung der Briten jedoch das Vereinigte Königreich

und die EU grundlegend und dauerhaft verändert.

Der Britische Premierminister David Cameron kündigt am Tag nach dem Refe-

rendum vor Number 10 Downing Street in London seinen Rücktritt an.

Foto: ullstein bild – Reuters/STEFAN WERMUTH