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Das britische EU-Referendum

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

bezüglich der Neuverhandlung der Mitgliedschaftskrite-

rien allerdings ziemlich lange hinausgezögert. Im Novem-

ber 2015 äußerte er in einer Rede am Royal Institute of

International Affairs in London erste konkrete Forderun-

gen. Diese umfassten die Nichtdiskriminierung der EU-

Mitgliedstaaten außerhalb der Eurozone, eine schnelle

Deregulierung des Binnenmarktes, mehr demokratische

Mitbestimmung in der EU, Maßnahmen zur Eindäm-

mung des Missbrauchs der Arbeitnehmerfreizügigkeit und

ein dauerhaftes britisches

opt out

vom Prinzip der „ständig

enger zusammenwachsenden Union“. 

30

Am selben Tag

übermittelte Cameron diese Forderungen offiziell in einem

Brief an den EU-Ratspräsidenten Donald Tusk. 

31

Premier Cameron gelang es dabei immerhin, seine

generellen Forderungen in den Neuverhandlungen der

britischen Mitgliedschaft weitgehend durchzusetzen.

Entscheidend war für ihn, dass es im Falle des Verbleibs

Großbritanniens ermöglicht werden würde die sozial-

staatlichen Leistungen für Arbeitnehmer aus anderen

EU-Mitgliedstaaten in Großbritannien auf bis zu sieben

Jahre zu begrenzen. Zudem hätte die britische Regierung

in Zukunft die Höhe des Kindergeldes für EU-Migranten

auf das Lebensstandardniveau des jeweiligen Herkunfts-

landes absenken können.

30 David Cameron: Prime Minister‘s speech on Europe at Chatham House, 10.11.2015, https://www.gov.uk/government/speeches/prime-ministers- speech-on-europe [Stand: 14.06.2016]. 31 David Cameron: A New Settlement for the United Kingdom in a Reformed European Union. Letter to EU Council President Donald Tusk, 10.11.2015, https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_ data/file/475679/Donald_Tusk_letter.pdf [Stand: 14.06.2016].

Im Februar 2016 kündigte die Regierung Cameron schließ-

lich den Termin des Referendums an: den 23. Juni 2016.

Im offiziellen Bericht zu den Verhandlungsergebnissen an

das britische Parlament betonte der Premier, dass die Ver-

handlungen Großbritannien einen neuen und sehr vor-

teilhaften Mitgliedsstatus in der EU ermöglichen würden,

bei dem das Land nicht an der politischen Vertiefung in

Bereichen teilnehmen werde, die nicht im britischen Inte-

resse seien. Cameron unterstrich zugleich, dass die EU in

Zukunft noch grundlegender reformiert werden müsse. 

32

Die schwierige Referendumskampagne: Großbritannien

als „Schlafwandler“ 

33

in Richtung Brexit

Obwohl es durch die relativ späte Ankündigung konkreter

Forderungen versäumt worden war, unter den EU-Mit-

gliedstaaten Partner für ein weitreichenderes Programm für

die Reform der EU zu gewinnen, kam es Cameron wohl

vor allem darauf an, eine langwierige innenpolitische Aus-

einandersetzung zu vermeiden. Seine Strategie zielte darauf

ab, durch eine kurze und effektive Referendumskampa-

gne die britische Öffentlichkeit vom Verbleib in der EU

zu überzeugen und stabil weiterregieren zu können. Die

Referendumskampagne gestaltete sich jedoch schwieriger

als erwartet. Innenpolitisch war der Premierminister durch

die Spaltung seines Kabinetts geschwächt. Er machte den

entscheidenden strategischen Fehler, in der Referendums-

frage nicht auf Kabinettsdisziplin zu bestehen.

Führende Kabinettsmitglieder wie Michael Gove, Ian

Duncan Smith und vor allem Camerons innerparteilicher

Rivale Boris Johnson versagten dem Premier daraufhin die

Gefolgschaft und entschieden sich dafür, die pro-Brexit

Vote-

Leave

-Kampagne anzuführen. Johnson wurde zunächst als

wahrscheinlichster Nachfolger Camerons im Amt des Pre-

mierministers angesehen, falls die Mehrheit der Briten für

den Austrittstimmen würden. Die Referendumskampagne

wurde deshalb von dem innerparteilichen Machtkampf zwi-

schen den Anhängern Johnsons und den Vertrauten Came-

rons, wie zum Beispiel Schatzkanzler George Osborne,

überschattet. Europapolitische Fachthemen rückten in den

Hintergrund; stattdessen gelang es den Brexit-Anhängern,

die Bedrohung der nationalen Souveränität Großbritanni-

ens in den Vordergrund zu rücken. In diesem Zusammen-

32 HM Government: Best of both worlds. The United Kingdom‘s special status

in a reformed European Union, London 2016, https://www.gov.uk/govern-

ment/uploads/system/uploads/attachment_data/file/502291/54284_EU_

Series_No1_Web_Accessible.pdf [Stand: 14.06.2016].

33 Vgl. den gleichnamigen Titel von Christopher Clark zu den politischen

Entscheidungsträgern, die Europa gleichsam „schlafwandlerisch“ in den

Ersten Weltkrieg geführt hätten.

Der Londoner Bürgermeister Boris Johnson bei einer

Vote-Leave

-Kampagne

in Selby. Johnson trat wie Farage kurz nach der Brexit-Entscheidung zurück.

Foto: ullstein bild – Reuters/ED SYKES