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aviso 1 | 2014
Der Zahn der Zeit
Colloquium
Zwischenzeiten sind Zeiten, die auf der Kippe stehen. Sie
haben den Charakter von Schwellen, die für Abzweigungen
offen sind. In solchen Arealen des Unbestimmten ist alles
möglich, weil alles in Frage steht, in der Schwebe ist. Das gilt
analog auch für räumliche Passagen, deren Existenz bis in die
Frühzeit der Menschheitsgeschichte nachgewiesen werden
können. Man hat Schwellen, die eine Unterscheidung von
Innen und Außen zulassen, bereits in den Überresten der
ältesten menschlichen Siedlungsformen entdeckt. Sie waren
auch da schon Orte des Mehrdeutigen, des Unbestimmten,
waren Orte, aber auch Zeiten der Entscheidung, der Abzwei-
gung, der Verwandlung, der inneren und der äußeren Verän-
derung. Das sind sie heute immer noch. Im Vorraum einer
Arztpraxis verwandelt sich der anonyme Straßenpassant in
einen Patienten. Der unauffällige Herr mit der Glatze wird,
kaum hat er einen weißen Kittel angezogen, zumHerrn Dok-
tor. Odysseus wurde bei der Heimkehr von seiner zehnjäh-
rigen Reise auf der Schwelle seines Hauses vom Bettler zum
Hausherren. Eben noch Gast, schlüpft er nach Übertreten der
Schwelle in die Rolle des Gastgebers. Der Sachverhalt, dass
dies nicht ohne Blutvergießen abgeht, macht die Gefahren
des Schwellentransfers deutlich. Betroffene reagieren dar-
auf gewöhnlich mit dem Schutzmechanismus »Angst«, von
Psychopathologen »Schwellenangst« genannt. Seit alters her
galten Schwellen als von Schwellengeistern belagerte magi-
sche Orte. Selbst für Goethes rastlos umtriebigen Faust waren
sie es. Ein an der Türschwelle angebrachtes Pentagramm,
volkstümlich: »Zauberknoten«, sollte den bösen Geistern
einen Schrecken einjagen. Vergeblich, wie wir wissen, da sich
Pudel von magischen Schutz- und Zauberzeichen nicht allzu
sehr beeindrucken lassen.
Nur im Halbschatten
ze i tl i cher und räuml i cher
Zwischenwelten
re i ft di e Erkenntnis,
dass das, was ist, ni cht alles ist.
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