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aviso 1 | 2014
DER ZAHN DER ZEIT
Colloquium
So sensibel, so
handlungsbereit gegenüber belästigender
Lückenlosigkeit zeigt sich heutzutage kein Senat mehr. Eher
ist das Gegenteil wahrscheinlich. Die Senate – heute heißen
sie Parlamente, Stadt- und Kreisräte – tun viel, damit die
vonMorgenstern so klug verspottete zeitliche und räumliche
Lückenlosigkeit Realität wird.
Auf dem Weg zur zwischenzeitlosen Gesellschaft
Wie jeder gesellschaftliche Wandel findet auch der »Fort-
schritt« zu einer übergangslosen Gemeinschaft als Real­
experiment, als Versuch am lebenden Objekt statt. Wir wis-
sen nicht, mit welchen biografischen Herausforderungen
wir Zeitgenossen zu rechnen haben, wenn immer mehr Zwi-
schenräume und die Zwischenzeiten wegfallen. Nicht bekannt
ist uns, wie Menschen reagieren, die gezwungen sind, ihre
Existenz ohne Passagen, ohne Übergänge, ohne Zwischen-
zeiten zu gestalten. Was geschieht in einer Welt ohne zeit­
liche und räumliche Dehnungsfugen und Leerstellen mit
den sozialen Systemen, mit Familien, Vereinen und mit dem
gesellschaftlichen Engagement? Ist ein übergangsloses Sozial­
system, eine zwischenzeitlose Gesellschaft noch zur Selbst-
stabilisierung und zu den ihren Erhalt sichernden notwendi-
gen Integrationsleistungen in der Lage? Fragen über Fragen,
auf die wir gegenwärtig keine Antwort haben, auch, weil wir
sie nicht stellen.
Vor Lückenlosigkeit muss gewarnt werden
In einem engagierten Plädoyer für den leeren Raum hat
Anselm Kiefer in seiner Dankesrede zur Verleihung des Frie-
denspreises des Deutschen Buchhandels (2008) eindringlich
vor der Übergangs- und der Lückenlosigkeit gewarnt. Ohne
Zeiten der Leere, ohne Zwischenzeiten, so Kiefer, können
sich weder die Subjekte noch die Gemeinschaften ihrer
Geschichte bewusst werden, sind sie nicht in der Lage, sich
ihre Vergangenheit anzueignen, kommen sie nicht mehr zu
sich selbst.
Das ist auch
die Botschaft von Luis Buñuel, dem großen Ironi-
ker des Kinos. In einem bedauerlicherweise nie realisierten
Kurzfilmprojekt mit dem Titel »La sancta Missa Vaticanae«
plante er, dem Publikum im doppelten Sinn des Wortes vor
Augen zu führen, was es zu erwarten hat, wenn die Prinzi-
pien des übergangslosen, des pausenlosen Wettbewerbs die
Zeitmuster des Kultes und der Kultur erobern werden. Sein
Filmkonzept sah folgenden Handlungsablauf vor: Der Platz
zwischen den Obelisken des Petersplatzes ist mit festlich
geschmückten Altären gefüllt. An jedem von ihnen zelebriert
ein Priester zusammen mit seinen Ministranten die heilige
Messe. Nach einem allseits vernehmbaren Startsignal treten
die Geistlichen gemeinsammit ihremHilfspersonal in einen
Wettstreit ein. Ziel des Wettbewerbs ist es, jenen Priester aus-
findig zu machen, der die sakralen Handlungen am schnells-
ten »abzufeiern« in der Lage ist. In unglaublichem Tempo,
immer mehr nach Luft ringend, leiern die beteiligten Geistli-
chen ihre religiösen Texte herunter und ermuntern die Gläu-
bigen, ihrem Tempo zu folgen. Die hilfreichen Messknaben
geraten dabei zunehmend in Bedrängnis, die sie schließlich
an den Rand der Erschöpfung führt. Einige von ihnen fal-
len völlig ausgepumpt, nach Atem ringend, um und scheiden
aus dem Wettbewerb aus. Sieger wird schließlich ein spani-
scher Geistlicher aus Huesca, dem es von allen amWettstreit
Beteiligten am perfektesten gelingt, sämtliche in der liturgi-
schen Feier vorgesehenen Pausen, Intervalle und Verzögerun-
gen zu eliminieren. Er hat es geschafft, das Messritual in der
Rekordzeit von eindreiviertel Minuten abzuspulen.
Buñuels Botschaft ist eindeutig: Opfer des Tempo-Wettstreits
sind die in der Liturgie vorgesehenen Pausen, Verzögerun-
gen, Übergänge und Intervalle. Ihre Eliminierung raubt der
religiösen Feier jegliche heilige Anmutung, alles Erhabene,
jede würdevolle Stimmung. Die rituelle Handlung wird zu
einem Absturz ins Alltägliche. Sie zerfällt in isolierte, zusam-
menhanglose Aktions- und Aufmerksamkeitsfragmente, die
im Stakkato aufeinander folgen. Sie fügen sich nicht mehr
zu einem Ganzen zusammen und hinterlassen deshalb
bei den Beteiligten nur inhaltliche Leere und formales
Gehetztsein.
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