Einsichten und Perspektiven (1|13): Vertrag von Lissabon - page 8

Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur?
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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15 Leggewie (wie Anm. 14).
Zweiten Weltkrieges von der Roten Armee besetzten Staa-
ten erlebten nach 1945 nach den Nazis ein neues Okkupa-
tionsregime, das von ihnen als gleichermaßen repressiv und
verbrecherisch empfunden wurde. Der 8./9. Mai 1945, das
Ende des Zweiten Weltkrieges, ist für sie keineswegs ein
kollektives Befreiungsdatum gewesen, wie dies in der russi-
schen Erinnerungskultur zunehmend aggressiv bekräftigt
wird. Dabei ist sich Leggewie der Problematik einer Kon-
kurrenz oder Hierarchisierung zwischen dem Holocaust-
Gedächtnis und dem Gulag-Gedächtnis bewusst. Aber er
bezieht sich ausdrücklich auf Jorge Semprún, den wir ein-
gangs zitierten, dass eben die Opfer beider Totalitarismen
gleichermaßen zu würdigen seien.
Als dritter Kreis werden die „Vertreibungen als ge-
samteuropäisches Trauma?“ genannt. Die europäische Di-
mension ist evident in Erinnerung an die diversen Bevölke-
rungstransfers des 20. Jahrhunderts vom Armenier-Geno-
zid bis nach Ex-Jugoslawien und natürlich an die großen
Vertreibungen im Gefolge des Zweiten Weltkrieges. Die
Geschichte der ethnischen Säuberungen in Ostmitteleuro-
pa ist oft noch schmerzhaft lebendig und könne gerade des-
halb zur Aussöhnung beitragen.
„Vierter Kreis: Die armenische Frage“. Mit dieser
Frage ist auch die Frage gestellt: Wo Europas Grenzen ver-
laufen und wie weit die Türkei als EU-Beitrittskandidat be-
reit ist, die Schwere der historischen Verantwortung für den
zumindest genozidalen Mord an hunderttausenden von Ar-
meniern 1915 anzuerkennen. Diese Frage ist längst zu einem
informellen Kriterium des EU-Beitritts der Türkei in eu-
ropäischen Parlamenten geworden. Denn es geht bei der
Armenienfrage auch um die Frage, wie demokratisch – mo-
ralisch und rechtsstaatlich – die türkische Gesellschaft im
Inneren geworden ist und welchen Stellenwert die Men-
schenrechte haben.
„Fünfter Kreis: Europäische Peripherie.“ Gemeint
sind damit die europäischen Kolonialverbrechen der Ver-
gangenheit, in die eine ganze Reihe europäischer Staaten in
oft verbrecherischer Weise verwickelt waren, mit Auswir-
kungen bis heute, und die nirgendwo brutaler ausgefallen
sind als in Zentralafrika. Leggewie bringt dies auf die pla-
kative Formel: „Wer in Europa vom Holocaust redet, darf
vom Kolonialismus nicht schweigen.“
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Und er verweist
darauf, dass die auf Zwangsarbeit beruhende Gewinnung
von Rohstoffen in Zentralafrika insbesondere unter belgi-
scher Herrschaft „streckenweise Züge eines Völkermordes“
aufwies.
„Sechster Kreis: Europa als Einwanderungskontinent.“ Er-
innert wird daran, dass Europa im 19. und 20. Jahrhundert
ein Kontinent mit massiven transnationalen Wanderungen,
erst vonOst nachWest, später von Süden nachNorden, war,
und insbesondere seit den 50er-Jahren eine Geschichte der
Einwanderung, des Asyls und der Armutsmigration auf-
weist. Es ist zugleich eine Geschichte der sozialen Integra-
tion, der politischen Einbürgerung und der kulturellen As-
similation in vielen Staaten Europas.
Der siebte Kreis ist schließlich „Europas Erfolgs-
geschichte seit 1945“, seine Geschichte der Etablierung frei-
heitlicher Demokratie, seine große europäische Einigungs-
geschichte, seine Überwindungsgeschichte der Teilung und
seine Geschichte der Rückkehr der Demokratie nach Ost-
europa, und alles überwölbend, die Geschichte einer langen
Ära des Friedens.
Diese denkbaren Kreise europäischer Erinnerung
sind sicher erst ein Anfang für eine grenzüberschreitende
Diskussion über europäische „lieux de mémoire“, keines-
wegs ihr bündiger Abschluss. Aber hier ist bereits der Weg
das Ziel, der Diskussionsprozess wesentlicher Teil seiner
Ergebnisse auf dem Weg zu einem europäischen Gedächt-
nis. Dass dieses Gedächtnis nur in einem offenen Prozess
von unten, von einer allmählich wachsenden europäischen
Zivilgesellschaft entwickelt werden kann und offen bleiben
muss für die vielen nationalen Erinnerungen und ihre Be-
sonderheiten, soll am Schluss noch einmal ausdrücklich be-
tont werden. Sicher ist, dass Europa in dem Maße zusam-
menwachsen wird, in dem es sich bei allen nationalen Ver-
schiedenheiten seiner Gemeinsamkeiten im Negativen wie
im Positiven bewusst wird.
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