Einsichten und Perspektiven (1|13): Vertrag von Lissabon - page 3

Der spanische Schriftsteller und Überlebende des KZ Buchen-
wald, Jorge Semprún (1923 – 2011), Porträt aus dem Jahr 1994
Foto: ullstein bild – Fondation Horst Tappe
Stellung genommen und damit den offenen Unmut alter
„Antifaschisten“ auf den Rängen provoziert. Er beschrieb
als das letztliche Ziel der Arbeit an einem europäischen Ge-
dächtnis: „Eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zu-
kunft eines vereinten Europas, besser gesagt des wiederver-
einten Europas, einen Weg zu bahnen, besteht darin, unse-
re Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedächtnis,
unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen. Der
kürzlich erfolgte Beitritt von zehn neuen Ländern aus Mit-
tel- und Osteuropa – dem anderen Europa, das im sowjeti-
schen Totalitarismus gefangen war – kann kulturell und exi-
stentiell erst dann wirksam erfolgen, wenn wir unsere Erin-
nerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden.
Hoffen wir, dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jah-
ren, 2015, die Erfahrung des Gulag in unser kollektives eu-
ropäisches Gedächtnis eingegliedert worden ist. Hoffenwir,
dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder
David Rousset auch die „Erzählungen aus Kolyma“ von
Warlam Schalamow gerückt wurden. Das würde zum einen
bedeuten, dass wir nicht länger halbseitig gelähmt wären,
zum anderen aber, dass Russland einen entscheidenden
Schritt auf demWeg in die Demokratisierung getan hätte.“
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Diesen Schritt hat Russland zwar bis heute nicht
getan, es hat sich unter Putin vielmehr zu einem plebiszitär
3 Ansprache von Jorge Semprún, in: Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora (Hg.): 60. Jahrestag der Befreiung der Konzen-
trationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora, 6.–12. April 2005, Weimar 2005, S. 54–57, hier S. 57.
4 Vgl. Margareta Mommsen: Oligarchie und Autokratie. Das hybride politische System Russlands, in: Osteuropa 8 (2010), S. 25 ff.
5 Vgl. Bronisław Geremek: Ost und West. Geteilte europäische Erinnerung, in: Helmut König/ Julia Schmidt/ Manfred Sicking (Hg.):
Europas Gedächtnis. Das neue Europa zwischen nationalen Erinnerungen und gemeinsamer Identität, Bielefeld 2008, S. 133–146.
6 So prägnant Eric Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts,
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München 2004.
Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur?
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legitimierten autoritären Regime zurückentwickelt.
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Aber
aus dem anderen Europa, auf das Semprún verweist, dem
ehemaligen kommunistisch beherrschten, wurde von dem
polnischen Oppositionellen und späteren Außenminister
Polens Bronisław Geremek der Gedanke ergänzt: „Wenn
man eine Gemeinschaft schaffen will, die in der Lage ist, auf
der Basis von Kooperation und Solidarität den Wohlstand
ihrer Mitglieder und einen dauerhaften und nachhaltigen
Frieden zu gewährleisten – so muss man eine Erinnerung
fördern, die diese Gemeinschaft festigt, denn sie ist das
Herzstück ihrer Identität“. Geremek, der auch gelernter
Historiker war, hebt damit auf die Grundidee der Vereini-
gung Europas als einer Friedensmacht und einer ökonomi-
schen Solidarmacht ab, die von den großen frühen Europä-
ern, dem Italiener de Gasperi, dem Franzosen Robert Schu-
man und dem Deutschen Konrad Adenauer nach der
Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mit ganzer Kraft zu-
nächst in Westeuropa vorangetrieben wurde, und die sich
nach dem Ende der Teilung Europas nach Osten hin erwei-
tert hat. Wenn Europa als Friedensmacht und als Solidarge-
meinschaft auf Dauer bestehen will, so die Überzeugung
Geremeks, dann braucht es eine über die nationale Erinne-
rung hinausreichende gemeinsame Erinnerung, denn nur
auf diesem Fundament kann Europa als Friedensmacht, als
Wirtschaftsmacht und als Solidargemeinschaft auf die Dau-
er Bestand haben.
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Die Europäische Gemeinschaft entstand in den
fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts durch einen be-
wussten Bruch mit dem alten nationalistisch geprägten
Europa, aus der Erfahrung von Totalitarismus, Holocaust
und den beiden Weltkriegen. Am Anfang der europäischen
Einigungsbemühungen standen die Lehren aus den Katas-
trophen des totalitären „kurzen 20. Jahrhunderts“,
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aus dem
nationalsozialistischen Zivilisationsbruch. Es ging um die
dauerhafte Überwindung von Nationalismus, innereuro-
päischen Kriegen, ethnisch-völkischen Überlegenheitsbe-
hauptungen und antihumanenGesinnungen. Hier liegen die
Nationen übergreifenden großen Negativerfahrungen
Europas, die gleichwohl bis heute nur begrenzt zu einemge-
meinsamen europäischen Gedächtnis geronnen sind.
Auch im politisch vereinten Europa konstatieren
wir zum Teil tief kontroverse und national, um nicht zu sa-
gen nationalistisch fokussierte kollektive Gedächtnisse sei-
ner Völker. Bereits die deutsche Erinnerungskultur ist
mehrfach gespalten. Für viele Westdeutsche ist die SED-
Diktatur immer fremdes Terrain geblieben, mit dem sie sich
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