Einsichten und Perspektiven (1|13): Vertrag von Lissabon - page 4

Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur?
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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7 Edgar Wolfrum: Das Erbe zweier Diktaturen und die politische Kultur des gegenwärtigen Deutschland im europäischen Kontext, in: Stef-
fen Sigmund u.a. (Hg.): Soziale Konstellation und historische Perspektive. Festschrift für M. Rainer Lepsius, Wiesbaden 2008, S. 310.
Ein Gedächtnisort, der im Gegensatz zu anderen unbestritten dem kollektiven Europa angehört: das Denkmal für die Soldaten des Ers-
ten Weltkrieges, Douaumont bei Verdun
Foto: ullstein bild – Ulrich Baumgarten
kaum näher auseinandergesetzt haben. Deshalb können sie
die Unterdrückung und Unfreiheit des Lebens in der Dik-
tatur oft nicht ermessen und wissen auch die Friedliche Re-
volution als Akt der Selbstbefreiung nicht hinreichend zu
würdigen. Aber auch im Osten Deutschlands gibt es bis
heute keinen Konsens über den Diktaturcharakter der
DDR. Gesamtdeutscher Konsens ist allenfalls der totalitäre
Charakter der nationalsozialistischen Diktatur. Wohin die
DDR-Erinnerung am Ende treibt, ist noch nicht ausge-
macht. Noch hat die DDR – kommunistische Diktatur oder
„soziales Paradies mit kleinen Schwächen“ – keinen festen
historischen Platz in der deutschen Erinnerungskultur ge-
funden. Sie ist bis heute, wie der Heidelberger Historiker
Edgar Wolfrum bündig konstatiert: „geschichtspolitisch
umkämpft, erinnerungskulturell fragmentiert und erfah-
rungsgeschichtlich geteilt“.
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Dieses Urteil gilt analog auch für Europa, trotz sei-
ner inzwischenweit nachOsten reichenden politischen Ver-
einigung. Die Europäische Union ist nach wie vor ge-
schichtspolitisch umkämpft, erinnerungskulturell fragmen-
tiert und erfahrungsgeschichtlich geteilt. Gegenwärtig sind
wir jedenfalls von einem gemeinsamen europäischen Erin-
nerungsraum weit entfernt. Die Geschichtsschreibung ist
vor allem oder sogar ausschließlich nationale Geschichts-
schreibung. Sie stellt die nationalen Gründungsmythen, Le-
gitimationsgrundlagen, historischen Zäsuren, Wendepunk-
te und Konflikte, die eigenen Großereignisse, zunehmend
auch die nationalen Verbrechen, Kollaborationen mit NS-
Deutschland zum Beispiel, oder die nationalen Leistungen
in das Zentrum ihrer Betrachtung. Aber vieles erfolgt nach
wie vor in dezidierter Abgrenzung gegenüber den anderen
Nationen. Nationale Erinnerungsgeschichte, die daraus er-
wächst, ist dann eben oft Konfliktgeschichte, Geschichte
von großen Siegen oder Niederlagen, Heldengeschichte,
Opfergeschichte oder Befreiungsgeschichte. Aus diesem
Stoff werden nationale Mythen gewebt und wird nationale
Identität gewonnen.
Nach demEnde der Teilung Europas haben sich die
Unterschiede zwischen den Erinnerungskulturen weiter
verschärft und dies nicht nur durch weitere Nationalismen
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