Einsichten und Perspektiven (1|13): Vertrag von Lissabon - page 5

Zeugnis osteuropäischer Erinnerungskultur: Die ca. 100 Meter
hohe „Mutter-Heimat“-Statue in Kiew wurde mit dem National-
museum 1981 von dem sowjetischen Staatschef Leonid Bresch-
new in Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg“ in
Kiew (heutige Ukraine) eingeweiht.
Foto: ullstein bild – aslu
in den Erinnerungskulturen, sondern durch grundlegend
andere Erfahrungshorizonte, jene des Totalitarismus kom-
munistischer Prägung. Hatte man sich in Westeuropa seit
den 1980er Jahren im Zuge fortschreitender politischer und
wirtschaftlicher Integration darauf verständigt, den Holo-
caust als gemeinsamen Erinnerungsraum und auch als ne-
gativen Gründungsmythos der europäischen Einigung zu
begreifen und den 27. Januar, den Tag der Befreiung des Ver-
nichtungslagers Auschwitz-Birkenau seit 2003 zum euro-
päischen, ja universalen Gedenktag erhoben, reichte dieses
Erinnern nach der Überwindung der Teilung Europas nicht
mehr hin.
8
Vielmehr entstand ein gedächtnispolitischer
8 Zum Ganzen vgl. Volkhard Knigge/ Hans-Joachim Veen/ Ulrich Mählert/ Franz-Josef Schlichting (Hg.): Arbeit am europäischen Gedächt-
nis. Diktaturerfahrung und Demokratieentwicklung, Köln/ Weimar/ Wien 2011; sowie vgl. Claus Leggewie: Schlachtfeld Europa. Transna-
tionale Erinnerung und europäische Identität, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2 (2009), S. 81 f.
Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur?
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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Streit entlang der früheren Ost-West-Trennlinie Europas
über die Frage, welchen Stellenwert die politisch-kulturelle
Erinnerung an die NS-Jahre im Vergleich zu der sowjeti-
schen Hegemonialpolitik einnehmen sollte. Aus Ostmittel-
europa, aber auch aus den ostdeutschen Bundesländern ist
immer wieder der mahnende oder auch zornige Appell zu
hören, den Opfern des sowjetisch angeführten Kommunis-
mus imöffentlichenGedenken einen ebensowürdigen Platz
einzuräumen wie den Opfern der NS-Diktatur und der NS-
Besatzungsherrschaft in Ostmitteleuropa.
So haben wir es heute empirisch gesehen mit drei
großen Erinnerungskreisen über die europäische Diktatu-
rengeschichte zu tun. Da ist zunächst die westeuropäische
Geschichte, die auch die westdeutsche ist, von der Befrei-
ung vom Nationalsozialismus, von der Etablierung frei-
heitlicher (westlicher) Demokratie, der europäischen Inte-
gration, des wirtschaftlichen Aufbaus und des Friedens.
Da ist auf der anderen Seite die sowjetische Geschichtser-
zählung, die sich teilweise derselben Themen annimmt, aus-
schließlich selbstverständlich der freiheitlichen Demokra-
tie: des Sieges über Deutschland im „Großen Vaterländi-
schen Krieg“, der Reintegration der Sowjetunion, des
wirtschaftlichen Aufbaus unter sozialistischem Vorzeichen
und des Friedens im eigenen Herrschaftsbereich. Und ne-
ben diesen beiden gibt es die brisanten und ambivalenten
osteuropäischen Nationalgeschichten, die zu einem Groß-
teil aus der gemeinsamen Erfahrung kommunistischer Un-
terdrückung und für das Baltikum auch der Annexion durch
die Sowjetunion über mehr als vier Jahrzehnte bestand.
Diese osteuropäischen Geschichten haben nach
dem Zweiten Weltkrieg keine Befreiung und keinen Fort-
schritt aufzuweisen, in ihnen ging es um Unterdrückung
und Totalitarismuserfahrung und um die Hoffnung auf die
Rückkehr nach Europa, die sich erst nach mehreren Jahr-
zehnten erfüllte. Die jungen Demokratien Ostmitteleuro-
pas ebenso wie die neuen Länder haben bis heute mit der
Schwierigkeit zu kämpfen, zwei unterschiedliche Totalita-
rismuserfahrungen verarbeiten und angemessen erinnern zu
müssen. Die Auseinandersetzung darüber ist von Land zu
Land in unterschiedlichem Ausmaß entbrannt, denn es gibt
zwar einen antinationalsozialistischen Konsens, aber, wie
schon gesagt, noch keinen antikommunistischen. Unüber-
sehbar ist eine Asymmetrie der Wahrnehmung der beiden
großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts im vereinten
Europa. In Westeuropa ist dies offenkundig, in den befrei-
ten LändernOsteuropas wird darüber noch gestritten, weit-
hin ist dort jedoch die Vorstellung vorherrschend, die die
Lettin Sandra Kalniete, eine Schlüsselfigur im Unabhängig-
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