Einsichten und Perspektiven (1|13): Vertrag von Lissabon - page 7

12 Vgl. Volkhard Knigge: Europäische Erinnerungskultur: Identitätspolitik oder kritisch-kommunikative historische Selbstvergewisserung, in:
Kulturpolitische Gesellschaft e. V. (Hg.): kultur.macht.europa – europa.macht.kultur, Edition Umbruch, Bd. 23, Essen 2008, S. 150 ff.
13 Pierre Nora: Les lieux de mémoire, Paris 1984.
14 Vgl. Claus Leggewie, Schlachtfeld Europa, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (2009), S. 81–93.
Wachturm und Skulpturengruppe „Parade der Geopferten“ von
Aurel Vlad, im Memorial Sighet, Museum in Rumänien, Auf-
nahme: Juni 2012
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so zu einem besseren Verständnis der Entwicklung Europas
in Gegenwart und Zukunft beitragen und damit die euro-
päische Identität stärken.
Auf der Basis dieser Initiative hat 2008 eine inter-
nationale Historikerkommission ein erstes Grobkonzept
für das „Haus der Europäischen Geschichte“ mit viel Mut
zur Lücke entwickelt, das wir auf dem 9. Internationalen
Symposium der Stiftung Ettersberg in Weimar im Oktober
2010 unter dem Titel: „Arbeit am europäischen Gedächtnis.
Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung“ erst-
mals einer breiten wissenschaftlichen Kritik unterziehen
konnten. Und natürlich gab es bereits Widerspruch, vor al-
lem von Europaabgeordneten aus den jungen Mitgliedslän-
Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur?
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dern, geht es doch nicht nur um die zentralen Marksteine,
Weichenstellungen und Ereignisse der europäischen Ge-
schichte als solcher und ihre Interpretationen, die umstrit-
ten genug sind, sondern letztlich um Anknüpfungspunkte
für ein gemeinsames europäisches Gedächtnis und damit
vor allem um die Frage der Erinnerung der beiden großen
Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und ihrer Folgen. Bei
der Arbeit an einem europäischen Gedächtnis kann es aller-
dings nicht darum gehen, etwa einen homogenen europäi-
schen Erinnerungsraum zu schaffen. Einheitliche Erinne-
rung, hierauf hat Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung
Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, früh hin-
gewiesen, ist nur mit einer totalitären Geschichtspolitik in
einem ebensolchen System möglich.
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Stattdessen geht es
darum, gemeinsame Berührungspunkte, materielle und ide-
elle Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung zu iden-
tifizieren, die der Franzose Pierre Nora „lieux de mémoi-
re“,
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frei übersetzt „Gedächtnisorte“, genannt hat. Hieran
anknüpfend hat der deutsche Soziologe Claus Leggewie
2009 sieben denkbare Kreise transnationaler Erinnerung in
Europa in einem explorativen Aufsatz in den „Blättern für
deutsche und internationale Politik“ 2009
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in die Diskussi-
on gebracht. Im Folgenden werden diese in aller Kürze re-
feriert, zumal der europäische Diskurs über gemeinsame
Berührungspunkte einer europäischen Erinnerungskultur
damit erst beginnt. Leggewies Ausgangsthese ist, dass die
Erörterung und Anerkennung der strittigen Erinnerungen,
d. h. am Ende gemeinsame „lieux de mémoire“ für die eu-
ropäische Gesellschaft und ihre Zukunft genauso hoch zu
werten sind wie Vertragswerke, Währungsunion und offe-
ne Grenzen.
Als ersten Kreis der Erinnerung bringt Leggewie
den „Holocaust als negativen Gründungsmythos“ mit ei-
nem Fragezeichen versehen in die Diskussion. Er weist da-
rauf hin, dass der Tag der Befreiung von Auschwitz am
27. Januar 1945 seit 1993 in ganz Europa und auch in den
USA als Holocaust-Memorial-Day begangen wird und dass
damit auf ein singuläres Menschheitsverbrechen des Mor-
des an den europäischen Juden Bezug genommen wird, das
unbestritten europäische Dimensionen hat, auch mit Blick
auf den europaweit verbreiteten Antisemitismus und die
vielfache Kollaboration europäischer Regierungen mit den
Nationalsozialisten.
Der zweite Erinnerungskreis ist der „Sowjetkom-
munismus – gleichermaßen verbrecherisch“ – ebenfalls mit
einem Fragezeichen versehen. Die nach dem Ende des
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