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Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur?
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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Dass mit Geschichte Politik gemacht wird, ist eine Binsen-
weisheit. Die politische Inanspruchnahme von Geschichte
gehört nämlich unvermeidlich zur Selbstverständigung und
zur Identitätsgewinnung demokratischer Gesellschaften.
Eine demokratische Geschichtspolitik qualifiziert sich aber
im Gegensatz zur verordneten Erbe- und Traditionspflege
diktatorischer Regime dadurch, dass sie verschiedene Inter-
pretationen der Vergangenheit zulässt, dass sie mit konkur-
rierenden Erinnerungen und Geschichtsbildern rechnet
und diese in den öffentlichen Diskurs einbezieht. Wo diese
Offenheit demokratischer geschichtspolitischer Praxis limi-
tiert wird, muss man sich stets der Gefahren bewusst sein,
die George Orwell in seiner düsteren Utopie „1984“ als
„Kontrolle über die Vergangenheit“ und „Schulung des Ge-
dächtnisses“ beschrieben hat. Im sogenannten „Wahrheits-
ministerium“ von „Ozeanien“ war Winston Smith fortlau-
fend damit beschäftigt, die Vergangenheit umzuschreiben.
Denn „wer die Vergangenheit kontrolliert, der kontrolliert
die Zukunft, wer die Gegenwart kontrolliert, der kontrol-
liert die Vergangenheit“, das musste er unter Folter lernen.
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Das verordnete Vergessen der Feinde des Regimes, das de-
ren Gestalt und Wesen aus der Erinnerung auslöschte, ge-
hörte im Kommunismus ebenfalls zur Alltagspraxis. Da
wurden ganze Bibliotheken zensiert, komplette Buchaufla-
gen eingestampft, Bild- und Filmdokumente durch Wegre-
tuschieren der in Ungnade gefallenen Genossen gefälscht
und jede der Wahrheit verpflichtete Erinnerung, aber auch
alles persönliche Erinnern zu höchst riskanten Angelegen-
heiten. Demokratische Gesellschaften dürfen gar nicht erst
versuchen, geschichtspolitische Entwicklungen beherr-
schen zu wollen, die beste Geschichtspolitik ist die, die den
Rahmen für eine offene Auseinandersetzung in der Zivilge-
sellschaft sichert und diese stets der intellektuellen Konkur-
renz aussetzt.
Erinnerungskulturen in Europa kann man in ihrer
jeweiligen empirischen Ausprägung, d. h. in ihren ausge-
prägten nationalen Verschiedenheiten darstellen, doch das
ist wenig fruchtbar, manchmal sogar irritierend egozen-
trisch. Man kann aber auch die wesentlich spannendere nor-
mative Frage stellen, um die es seit einigen Jahren im euro-
päischen geschichtswissenschaftlichen Diskurs über das Er-
innern geht: Ob denn eine europäische, d. h. gemeinsame
Erinnerungskultur in Europa wünschenswert und möglich
ist und welches ggf. ihre Inhalte sein könnten? Damit wird
das Augenmerk auf ein europäisches Gedächtnis gelegt, zu
dessen Möglichkeiten und Grenzen und zuerst zu dessen
Zielen, zu dem WARUM ich mich im Folgenden einlassen
werde. Hierzu hat Jorge Semprún, ehemaliger KZ-Häftling
in Buchenwald, bedeutender Autor, Filmemacher und Kul-
tusminister im post-franquistischen Spanien sowie Ehren-
mitglied der Stiftung Ettersberg am 7. April 2005 im Wei-
marer Nationaltheater anlässlich der zentralen Gedenkver-
anstaltung aus Anlass des 60. Jahrestages der Befreiung der
nationalsozialistischen Konzentrationslager sehr mutig
1 Hans Günter Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte: Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Konrad H. Jarausch/
Martin Sabrow (Hg.): Verletztes Gedächtnis: Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt am Main 2002, S. 39–73, hier
S. 41.
2 George Orwell: 1984, Kapitel 3, Frankfurt am Main 1984, S. 34.
Beginnen wir in guter deutscher Wissenschaftstradition damit, zu definieren, was denn
„Erinnerungskultur“ eigentlich bedeutet und welche Konsequenzen sie hat. Es ist ein
sehr junger Begriff, der von dem Münchner Historiker Hans Günter Hockerts 2002 in
einer sehr weit gefassten und pragmatischen Definition als ein „lockerer Sammelbegriff
für die Gesamtheit des nichtspezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte
für die Öffentlichkeit“
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beschrieben wurde. In der Erinnerungskultur geht es also
nicht um historisches Wissen oder Geschichtsschreibung als solche, sondern um die
Nutzung der Geschichte zu Bildungs- und Erkenntniszwecken in Gesellschaft und
Öffentlichkeit. Damit wird die Erinnerungskultur immer auch zu einem Gegenstand
der Geschichtspolitik.
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