Einsichten und Perspektiven (1|13): Vertrag von Lissabon - page 6

Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur?
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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9 Sandra Kalniete: „Altes Europa, Neues Europa“, Eröffnungsrede auf der Leipziger Buchmesse am 24. März 2004, im Internet unter:
(Stand: 1. November 2013).
10 Stéphane Courtois u. a.: Das Schwarzbuch des Kommunismus, München 1998.
11 Hans-Gert Pöttering: Europas Werte verteidigen – für ein Europa der Bürger. Die Reformen verwirklichen – für Demokratie und Parla-
mentarismus. Den Dialog der Kulturen fördern – für Partnerschaft und Toleranz, Programmrede vom 13. Februar 2007, Ms., Straßburg
2007.
Mahnmal für die Opfer der stalinistischen und kommunistischen
Verfolgungen und Deportationen in Litauen in Vilnius, Auf-
nahme: Juli 2008
Foto: ullstein bild – Fishman
keitskampf Lettlands und spätere Außenministerin, auf der
Eröffnungsrede zur Leipziger Buchmesse 2004 auf den
Punkt brachte: „dass die beiden totalitären Regime – der
Nationalsozialismus und der Kommunismus – gleich kri-
minell“
9
waren. Das rief große Empörung im Westen und
im Osten vor allem bei alten „Antifaschisten“ hervor.
Obwohl die Osteuropäer zwischen 1989 und 1991
zumeist aus eigener Kraft ihre Freiheit erlangten und ihre
eigenen Geschichten zu schreiben begannen und obwohl
viele osteuropäische Länder 2004 und 2007 in die Europäi-
sche Union aufgenommen wurden, sind ihre Nationalge-
schichten als kommunistische Unterdrückungsgeschichten
bis heute nicht voll anerkannt und als europäisch akzeptiert
worden. Ihre Geschichten haben noch keinen Eingang in
die größere europäische Geschichte gefunden. Denn nach
wie vor ist im Westen eine vergleichsweise verständnisvolle
oder ignorante Sicht auf den Kommunismus und seine
Herrschaft verbreitet, weil das westliche politische Be-
wusstsein sich lange gegen viele Erkenntnisse aus dem sow-
jetischen Herrschaftsbereich und aus der Herrschaftspraxis
der kommunistischen Regime wehrte, obwohl sie in den
Wissenschaften hinreichend und in all ihren Facetten be-
kannt waren. Als beispielsweise 1997 das „Schwarzbuch des
Kommunismus“
10
mit einer Auflistung der kommunisti-
schen Verbrechen und einer faktenreichen Bilanz ihrer Op-
fer weltweit in Frankreich erschien, löste es eine heftige
Kontroverse aus, an der sich die sozialistische Regierung
unter Premierminister Jospin mit der Einschätzung betei-
ligte, das Buch sei voll von Übertreibungen. Im Mai 2005
haben die sozialistischen Abgeordneten des Europäischen
Parlaments ihre Stimme einer Resolution zum Ende des
Zweiten Weltkrieges verweigert, weil sie sich nicht zu der
Feststellung durchringen konnten, dass das Kriegsende in
Osteuropa eine neue Zeit der Tyrannei mit sich gebracht
hat. Und dass das sowjetische System der Gulags nicht nur
von der Sowjetunion selber, sondern auch von westlichen
Kommunisten über Jahrzehnte geleugnet wurde, bis Ale-
xander Solschenizyns Buch über den Archipel Gulag 1973
erschien, passt in das relativierende Bild des Kommunismus
im Westen.
Angesichts dieser skizzierten Asymmetrie imErin-
nern der beiden großen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts
war es schon ein außerordentlich wagemutiger Beschluss
des Europäischen Parlaments 2007, ein „Haus der Europäi-
schen Geschichte“ zu gründen und 2014 in Brüssel zu er-
öffnen. Initiiert hatte diesen Beschluss der Präsident des Eu-
ropäischen Parlaments, Hans-Gert Pöttering (der inzwi-
schen Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung ist) in
seiner programmatischen Rede am 13. Februar 2007: „Ich
möchte einenOrt der Erinnerung und der Zukunft anregen,
an dem das Konzept der Idee Europas weiter wachsen kann.
Ich möchte den Aufbau eines „Hauses der Europäischen
Geschichte“ vorschlagen. Es soll […] ein Ort sein, der un-
sere Erinnerung an die europäische Geschichte und das eu-
ropäische Einigungswerk gemeinsam pflegt und zugleich
offen ist für die weitere Gestaltung der Identität Europas
durch alle jetzigen und künftigen Bürger der Europäischen
Union.“
11
Das „Haus der Europäischen Geschichte“ soll
nach demWillen des Europäischen Parlaments eine Verbin-
dung zwischen der gemeinsamen Geschichte und allen Bür-
gerinnen und Bürgern der Union schaffen. Es soll ein mo-
derner, attraktiver und interaktiver Ort der Begegnung und
des Dialogs werden, um die Kenntnisse der Europäer aller
Generationen über die jüngere Geschichte zu vertiefen und
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