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Einsichten und Perspektiven 4 | 17

machten. Wie schon nach der Zusammenarbeit von 2005

bis 2009 fühlen sich die Sozialdemokraten abgestraft für

eine Regierungsarbeit, die sie selbst als nicht erfolglos

erachten und in welcher sie einige Symbolprojekte umset-

zen konnten (z.B. Mindestlohn, Mietpreisbremse oder

Rente mit 63). Betrachtet man die vorhandene program-

matische Nähe von Union und SPD sowie die auf Länder-

ebene bestehenden Koalitionen der beiden Parteien, so

ist die Ablehnung der großen Koalition als kurzfristiger

Effekt und weniger als grundsätzliche strategische Neuori-

entierung zu sehen. So führte der Druck des Bundesprä-

sidenten Frank-Walter Steinmeier bereits dazu, dass sich

die SPD zumindest für Gespräche mit der Union offen

zeigte. Möglicherweise wäre die Tolerierung einer Minder-

heitsregierung für die SPD ein Mittelweg zwischen festem

Bündnis und Neuwahlen.

Wie es sich bereits auf Länderebene angedeutet hat, füh-

ren die Veränderungen im Parteiensystem zu neuen Koa-

litionsexperimenten. Aktuell existieren 13 verschiedene

Bündnisformate in den Ländern, wobei Dreierformate

und lagerübergreifende Bündnisse häufiger werden.

62

Das

bedeutet zugleich eine Normalisierung, das Besondere

und Ungewöhnliche schleift sich ab. Die Wähler akzeptie-

ren zunehmend bis dato als exotisch eingestufte Formate.

62 Vgl. Martin Gross/Tim Niendorf: Determinanten der Bildung nicht-etab-

lierter Koalitionen in den deutschen Bundesländern, 1990–2016: in: Zeit-

schrift für Vergleichende Politikwissenschaft 11/2017, S. 365-390.

Nicht zu unterschätzen sind jedoch die Herausforde-

rungen für Regierungsarbeit und Koalitionsmanagement.

Die Abstimmung unter drei Partnern (oder vieren wie bei

einer Jamaika-Bundesregierung) läuft anders als bei zwei

Bündnispartnern. Gleiches gilt für das ungewohnte Expe-

riment einer Minderheitsregierung. Die Regierung müsste

in diesem Fall in erhöhtem Maße und tagesaktuell um

Zustimmung im Parlament werben. Vor allem auf europä-

ischer oder internationaler Ebene würde wohl häufig ein

klares Verhandlungsmandat fehlen. Die Erfahrungen von

der Länderebene zeigen, dass gerade neue Bündnisse oft

vor Ende der Legislaturperiode scheiterten.

Mehr Beteiligung bei Verhandlungen

Schließlich gestaltet sich nach der Bundestagswahl

2017 der Ablauf der Gespräche und Verhandlungen

anders, als wir das bislang gewohnt waren. Ohnehin exis-

tieren in Deutschland keine formalen Regeln für die Aus-

gestaltung von Koalitionsgesprächen, diese verlaufen viel-

mehr als

free style bargaining

.

63

Zunächst fiel diesmal die

Verhandlungsgruppe deutlich größer aus, da vier Parteien

ihre Delegationen entsenden. Nach zwei kurzen Treffen

63 Thomas Saalfeld: Deutschland: Auswanderung der Politik aus der Verfas-

sung? Regierungskoalitionen und Koalitionsmanagement in der Bundes-

republik, 1949-1997, in: Wolfgang C. Müller/Kaare Strøm (Hg.): Koali-

tionsregierungen in Westeuropa. Bildung, Arbeitsweise und Beendigung,

Wien 1997, S. 47-108.

Im Bundestag vertretene Parteien 1949 - 2017

´49

´53 ´57 ´61 ´65 ´69 ´72 ´76 ´80 ´83 ´87 ´90 ´94 ´98 ´02 ´05 ´09 ´13 ´17

Christlich-Demokratische Union Deutschlands / Christlich-Soziale Union Bayern

Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Freie Demokratische Partei

Deutsche Partei

Grüne / Bündnis 90/Die Grünen

Zentrum

PDS / LINKE

KPD GB/BHE

AfD

BP

WAV

DKP/

DRP

SSW

Anmerkung: KPD – Kommunistische Partei Deutschlands; BP – Bayernpartei; WAV – Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung; DKP/DRP – Deutsche Konservative

Partei/Deutsche Rechtspartei; SSW – Südschleswigscher Wählerverband; GB/BHE – Gesamtdeutscher Block/Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten;

PDS / Linke – Partei des Demokratischen Sozialismus / Linkspartei; AfD – Alternative für Deutschland

Quelle: Daten vom Bundeswahlleiter. Eigene Darstellung

Wahlnachlese 2017