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Ägypten – Diktatur reloaded?

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

eine Frage, auf die man in der ägyptischen Prärie oder

einem konservativ geprägten Stadtteilkomplex wie Isla-

misch-Kairo völlig andere Antworten erhalten wird als in

Großstädten wie Kairo und Alexandria oder in beliebten

Touristenorten wie Sharm el-Sheik und Hurghada. Der

Anspruch der Muslimbrüder, eine „islamische Demokra-

tie“ zu errichten, war für viele Ägypter kein Widerspruch

in sich und daher nicht von vornherein ein Dorn im Auge.

Die praktische Regierungsführung des ersten demokra-

tisch gewählten Präsidenten Mohammad Mursi, der als

Sprachrohr der Islamisten galt, enttäuschte jedoch viele

Erwartungen der Bevölkerung. „Er gab der Mehrheit der

Ägypter nie das Gefühl, dass er ihr aller Staatsoberhaupt ist;

stattdessen erweckte er den Eindruck, lediglich der Vertreter

der Muslimbrüder im Präsidentenpalast zu sein“, 

31

schreibt

Yasser Khalil. Die einflussreichen Gruppen, die Ägypten

seit Jahrzehnten kontrollieren: Armee, Sicherheitsdienst,

Medien und Wirtschaftsführer, hätten den Islamisten nie

über den Weg getraut, so der ägyptische Journalist.

31 Yasser Khalil: Gott und Vaterland, in: zenith (wie Anm. 5), S. 45.

Zum Verhängnis wurde den Muslimbrüdern neben ihren

Islamisierungsbemühungen denn auch der Umgang mit

diesen Gruppen, die in Ägypten eng miteinander verban-

delt sind. „Die Großunternehmer haben massiv dazu bei-

getragen, dass die Regierung sich nicht halten konnte“, 

32

erklärt der Ägypten- und Wirtschaftsexperte Stephan Roll

von der

Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)

. Die Steu-

erbehörden im neuen Staat machten anders als früher auch

vor den einflussreichsten Unternehmerfamilien keinen Halt

und stellten Forderungen in Milliardenhöhe – diese droh-

ten 2013 mit Kapitalabzug und begannen gemeinsam, die

ägyptische Wirtschaft zu boykottieren. Im Sommer zeigte

sich die Macht der Firmen: Benzin und Gas mussten rati-

oniert werden, vor den Tankstellen kam es zu kilometer-

langen Staus, stundenlange Stromausfälle lähmten das sonst

pulsierende Kairo. Viele machten die Wirtschaftspolitik der

Muslimbrüder dafür verantwortlich. Die oppositionelle

Bewegung

Tamarod

(„Aufstand“) sammelte Unterschriften

32 Hier und im Folgenden vgl. Christina Schmitt: Der Spirit ist gut, in: zenith

(wie Anm. 5), S. 60–63, (Zitat: S. 61).

Der ehemalige Präsident Mohammed Mursi (schwarz gekleidet, 2.v.r.) und andere Mitglieder der Muslimbrüderschaft in einem Gericht, Kairo, 4. November 2013

Foto: ullstein bild/Reuters/Stringer