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Ägypten – Diktatur reloaded?

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

rer in Ägypten auch allen Grund: Sie verdienen im Schnitt

monatlich 500 Pfund; das sind etwa 60 Euro. 

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Viele von

ihnen geben nach der Schule den eigenen Schülern private

Nachhilfe, um dazuzuverdienen. Die staatlichen Schulen

in Ägypten genießen keinen guten Ruf. Eltern, die es sich

leisten können, schicken ihre Kinder auf private Einrich-

tungen. Eltern wie Sayed Abo-Hasseb Abdullah, die das

nicht können, nehmen ihre Kinder ganz von der Schule

und lassen sie arbeiten, um die Ernährung der Familie zu

sichern.

Schlechter noch als der Familie in Bolak Abo el-Ela

ging und geht es Millionen Menschen in den Slums von

Kairo. Es gibt hier weder fließendes Wasser und noch

eine Stromversorgung. Ihre Hütten haben keine sani-

tären Einrichtungen, weshalb typische Krankheiten des

Hygienemangels weit verbreitet sind. In den Müllbergen

der Slums suchen Kinder nach Gegenständen, die sich

irgendwie zu Geld machen lassen: Metall und Plastik,

Schuhe oder Papier. Damit sie nicht verhungern. Wäh-

rend sich das Mubarak-Regime jahrzehntelang nichts

unternahm, um durch sozialpolitische Maßnahmen des

Elend im Kairoer Slum einzudämmen, engagierten sich

die Muslimbrüder regelmäßig in diesen Vierteln und ver-

sorgten die Menschen mit dem Allernötigsten. Ob aus

Berechnung oder tiefer religiöser Überzeugung: Die mus-

limische Pflicht des

Zakat

– einer Abgabe für die Ärms-

ten der Gesellschaft – wurde von ihnen ernst genommen.

Wer vom Erfolg der ägyptischen Muslimbruderschaft

bei den ersten freien Parlamentswahlen im Jahr 2011/12

überrascht war, hätte in den Slums eine Erklärung für

den Wahlsieg finden können: Wer täglich ums Überleben

kämpft, macht sein Kreuzchen bei der Person, die ihm

dabei hilft, während andere wegsehen. Der Magen knurrt

zu laut, um über die Feinheiten verschiedener Demokra-

tie-Modelle nachzudenken.

Schließlich hat sich die Schere zwischen Arm und

Reich in Ägypten weit geöffnet. 

17

In der Diktatur gedieh

über Jahrzehnte ein Klima der Misswirtschaft und per-

sönlichen Gefälligkeiten, 

18

das die Korruption zum

16 Angabe zum Zeitpunkt des Treffens im Sommer 2011. Ebd., S. 13.

17 Insbesondere im letzten Jahrzehnt der Ära Mubarak nahm die soziale Un-

gleichheit zu: Trotz eindrucksvoller ökonomischer Wachstumsraten wuchs

der Anteil der Armen und Ärmsten an der Bevölkerung. Vgl. Perthes (wie

Anm. 4), S. 50.

18 Damit machte sich insbesondere Mubaraks Sohn Gamal, den er sehr of-

fensichtlich zum Nachfolger auserkoren hatte, einen Namen: Er hievte

eine Menge Geschäftsleute und Günstlinge in wichtige Regierungspositi-

onen, die dort ihre eigenen Interessen verfolgten. Vgl. Perthes (wie Anm. 4),

S. 51.

Gesellschaftsprinzip erhob. Weniger persönliche Bega-

bung und Fleiß entscheiden über die Richtung, die ein

ägyptisches Leben einschlägt; der Status der Familie

gibt sie vor. Während elitäre Zirkel ein luxuriöses Leben

führten, lag die Jugendarbeitslosigkeit in Ägypten kurz

vor Ausbruch der Revolution bei 24,8 Prozent. 

19

Die

Arbeitslosigkeit ist insbesondere für junge Männer nicht

nur ein Problem der beruflichen Perspektivlosigkeit, son-

dern trifft sie dort, wo sie dem gesellschaftlichen Ver-

ständnis nach ihre Männlichkeit zu beweisen haben: in

ihrer Rolle als Familienvater. Um eine Familie gründen

zu können und – ein nicht zu unterschätzender Faktor:

Sex zu haben, 

20

ist die Heirat für die meisten Ägypter

nach wie vor zwingende Voraussetzung. Abweichler von

dieser Norm, handelt es sich nun um Homosexuelle und

Transgender, Prostituierte oder schlicht emanzipierte

junge Frauen, die von der Institution der Ehe nichts hal-

ten, sind gesellschaftlich stigmatisiert. Um heiraten zu

können, bedarf es finanzieller Absicherung: Die meisten

Brautfamilien bestehen darauf. 

21

Durch die schwierige

ökonomische Situation vieler junger Ägypter hat sich das

durchschnittliche Heiratsalter in den vergangenen Jahr-

zehnten bedeutend erhöht. Das beeinträchtigt auch das

Selbstwertgefühl der männlichen Jugend, da sie die ihr

zugeschriebene soziale Rolle nicht erfüllen kann. Und

es bedeutet auch: keine (oder nur unter schwierigsten

Bedingungen erreichbare) sexuelle Befriedigung. Einer

von vielen Faktoren, der zur allgemeinen Unzufrieden-

heit beitrug. 

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Wochen des Zorns

Natürlich gab es auch die Stimmen in der ägyptischen

Revolution, die in Europa und Amerika aus politischen

Gründen als lauteste vernommen wurden. Sie riefen nach

Demokratie und Menschenrechten. Für den Wunsch

nach letzteren liefert die ägyptische Gesellschaft genug

Potential in Form von groben Verletzungen der Allge-

meinen UNO-Erklärung von 1948, die auch Ägypten

unterschrieben hat. Ob der staatliche und gesellschaft-

liche Umgang mit Menschen mit Behinderung, mit

19 Angaben des nationalen statistischen Amts für das Jahr 2010 (15- bis

24-Jährige). Vgl. Steffen Angenendt/Silvia Popp: Jugendarbeitslosigkeit in

nordafrikanischen Ländern (=SWP-Aktuell), 34 (2012), S. 3.

20 Das Wort

nikah

aus dem klassischen Arabisch bedeutet nicht umsonst

beidermaßen „Heirat“ und „Geschlechtsverkehr“.

21 Vgl. El-Feki (wie Anm. 1), S. 66 f.

22 „Geh! Ich will heiraten!“ lautete eines der ungewöhnlicheren Plakate der

ägyptischen Revolution. Vgl. ebd., S. 61.