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Ägypten – Diktatur reloaded?

Einsichten und Perspektiven 2 | 16

marginalisierten religiösen Minderheiten wie den

Baha’i

,

Menschen der verschiedenen LGBT-Gruppen, 

23

Oppo-

sitionellen oder schlicht mit Ägypterinnen, von denen

beispielsweise trotz offiziellem Verbot mehr als 90 Pro-

zent „beschnitten“ sind 

24

– die Menschenrechtslage ist

in vielen Bereichen prekär. Omnipräsente Gewalt durch

den Sicherheitsapparat des Mubarak-Regimes, ob offen

auf der Straße oder in Foltergefängnissen, taten ihr Übri-

ges, um die Wut der Bürger auf die Diktatur zu steigern.

2010 erreichte die Unzufriedenheit einen Kulminations-

punkt: In diesem Jahr kam es zu mehr als 700 Streiks

und anderen Protestaktionen. Im Sommer gründete sich

eine

Facebook

-Gruppe unter dem Namen

„kulluna Kha-

lid Said/We are all Khalid Said“,

nachdem der Namens-

geber – ein bekannter ägyptischer Blogger – in einem

Internetcafé in Alexandria von Polizisten zu Tode geprü-

gelt worden war. Die Gruppe wollte auf diese Weise Pro-

test gegen staatliche Willkür und Gewalt organisieren

und in den öffentlichen Raum tragen. 

25

Landesspezifische Gründe, auf die Straße zu gehen,

gab es in Ägypten zur Genüge. Auslöser für die Proteste

im Jahr 2011 waren jedoch die Ereignisse in Tunesien.

Noch ging es den etwa ein Dutzend jungen Leuten, die

über Facebook für den 25. Januar den „Tag der Polizei“

ankündigten, nicht um den Sturz des Regimes: Sie woll-

ten gegen die Brutalität der Staatsorgane demonstrieren,

forderten eine Ablösung des Innenministers, eine Begren-

zung der präsidialen Amtszeit und faire Mindestlöhne. 

26

Dass sich ihnen Zehntausende andere anschließen wür-

den, hatten die Initiatoren nicht für möglich gehalten.

Der

Tahrir

-Platz wurde gewaltsam geräumt, doch die

Demonstranten antworteten am darauffolgenden Freitag

mit dem „Tag des Zorns“: nicht nur in Kairo, wo sich

hunderttausende Menschen versammelten, sondern in

nahezu allen größeren Städten des Landes. Die Polizei,

beobachtet und bloßgestellt durch den katarischen Fern-

sehsender

Al Jazeera

, reagierte brutal und machte Jagd

auf einzelne Demonstranten; bis zu hundert von ihnen

kamen ums Leben. Polizeiwachen und das fünfzehnstö-

ckige Hauptquartier der Nationaldemokratischen Partei

(NDP) des Präsidenten standen in Flammen. Mubarak

23 Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender.

24 Diesen Wert ergab eine landesweite Umfrage aus dem Jahr 2008, in der

verheiratete ägyptische Frauen unter fünfzig Jahren befragt wurden. Vgl.

Fatma el-Zanaty/Ann Way: Egypt. Demographic and Health Survey 2008,

S. 197.

25 Vgl. Perthes (wie Anm. 4), S. 53.

26 Hier und im ganzen Absatz vgl. Perthes (wie Anm. 4), S. 54ff.

verfolgte eine Strategie von Zuckerbrot und Peitsche: Er

ernannte einen Vizepräsidenten und installierte ein neues

Kabinett, in dem der verhasste Innenminister fehlte.

Bei den folgenden Demonstrationen schickte er aber

die ägyptische Armee auf den Platz, hatte die Rechnung

allerdings ohne die Soldaten gemacht. Die neue Parole

auf dem

Tahrir

hieß nun „Das Volk will den Sturz des

Regimes“ und die Armeeführung schloss sich den „legiti-

men Forderungen“ an. Das Regime antwortete mit treu

ergebenen Anhängern auf Pferden und Kamelen, die in

die Menge auf dem

Tahrir

-Platz ritten und die Menschen

angriffen; wieder gab es viele Tote und tausende Verletzte.

Mubarak hatte den Zeitpunkt verpasst, zu dem er sich

einen würdevollen Abgang hätte sichern können. 18

Tage nach der ersten Großdemonstration stand fest: Der

82-jährige Präsident würde nach 31 Jahren weder eine

weitere Amtszeit genießen noch die Macht seinem Sohn

Gamal übergeben können.

Nachdem die Demonstranten den

Tahrir

-Platz erobert hatten, putzte der

ehemalige Ladenbesitzer Mohammad Abd al-Latif Mohammad auf der

Straße die Schuhe von Passanten, um seine Familie durchzubringen.

Foto: Kristina Milz