Einsichten und Perspektiven 1|15 - page 9

Otto von Bismarck – Erblast und Erbe
„Des Helden Heimfahrt“: Karikatur des „Kladderadatsch“ zum Tode Bismarcks im Jahr 1898
Quelle: Universitätsbibliothek Heidelberg (Creative Commons-Lizenz CC-BY-SA 3.0 DE)
3
Zit. bei Rainer F. Schmidt: Bismarck. Realpolitik und Revolution, München 2006, S. 277.
4
Zit. bei Lothar Gall: Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt /Berlin/Wien 1980, S. 707.
Einsichten und Perspektiven 1 | 15
9
Beute beladenen Drachenschiff nach Walhall überführt, wo
ihn Wotan (Wilhelm I.) und Thor (Friedrich III.) erwarten.
Ganz anders versinnbildlichte der Pariser „Le Grelot“ das
Ereignis. Seine Zeichnung zeigte die allegorische Figur der
„Humanité“, halb entblößt, mit nacktem Oberkörper, stie-
ren und zornigen Blickes. Mit gebieterisch ausgestrecktem
rechtem Arm weist sie ihren zerlumpten, in Holzpantoffeln
heranschlurfenden Knecht an, den grausig entstellten To-
tenschädel Bismarcks, an dem noch die zerfransten Augen-
brauen und der zerfurchte Schnurrbart kleben, in die Lei-
chengrube zu werfen, wo die Schädel der anderen Ungeheu-
er der Menschheit liegen.
Denkmal oder Dämon – das waren und sind die
Etiketten, die Bismarck und seinem Lebenswerk bis heute
anhaften. „Ich würde gern Bismarck in zwei Teile teilen, da-
mit ich den einen bewundern, den anderen hassen kann“
3
,
so hatte sich schon die Mutter Kaiser Franz Josephs, die
Erzherzogin Sophie, geäußert. Und der Althistoriker Theo-
dor Mommsen zog noch vor dem Ersten Weltkrieg eine
prognostisch-bittere Bilanz: „Die Gewinne anMacht waren
Werte, die bei demnächsten Sturme derWeltgeschichte wie-
der verlorengehen, aber die Knechtung der deutschen Per-
sönlichkeit, des deutschen Geistes, war ein Verhängnis, das
nicht mehr gut gemacht werden kann.“
4
Um diese Zeit war Bismarck schon seit seinem 80.
Geburtstag, dem 1. April 1895, im Bewusstsein der Deut-
schen zum nationalen Titanen und Mythos avanciert. Fünf
Jahre nach seiner Entlassung war er zum „Eisernen
Kanzler“, zum „germanischen Recken“ und „Roland“, zum
Denkmal seiner selbst geworden. Seine als Abrechnungs-
schrift mit beißendem Spott und Hohn konzipierten, oft
kontrafaktischen Erinnerungen, fanden so reißenden Ab-
satz, dass der Verlag mit dem Nachdruck nicht nachkam,
und man sich in den Buchhandlungen prügelte, um ein
Exemplar zu ergattern. Auf den Anhöhen der Städte schos-
sen allenthalben Bismarck-Türme aus dem Boden, um all-
jährlich zur Sonnwendfeier als leuchtendes Fanal an den
größten deutschen Staatsmann zu erinnern und kommen-
den Generationen von seinen Ruhmestaten zu künden.
Mehr als 500 deutsche Städte machten ihn zum Ehrenbür-
1,2,3,4,5,6,7,8 10,11,12,13,14,15,16,17,18,19,...80
Powered by FlippingBook