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Otto von Bismarck – Erblast und Erbe
das von den Sozialisten um Lassalle propagierte allgemeine,
geheime und gleiche Wahlrecht ein. Durch die Mobilisie-
rung der königstreuen, ländlichen Schichten sollte die Eli-
tenpolitik des Großbürgertums an der Wahlurne überspielt
werden. Und nach der Reichsgründung von 1871 stellte er
den diversen Repressionsmaßnahmen, um den oft wider-
borstigen Reichstag, wie Bismarck sagte, „trockenzulegen“,
auch konstruktive und integrative Elemente der Politik zur
Seite. Auf der einen Seite gab es gezielte Pressefeldzüge ge-
gen die Widersacher; gab es die Drohung mit der Verfas-
sungsrevision, dem Staatsstreich; wurde das Parlament in
Zeiten hochgepeitschter innen- wie außenpolitischer Kri-
senlagen aufgelöst; wurden die Neuwahlen mit zündenden
Parolen zum Plebiszit für oder gegen den Kanzler umfunk-
tioniert; und gab es mit „Sozialistengesetz“ und „Kultur-
kampf“ eine kalkulierte Sammlungspolitik gegen die soge-
nannten „Reichsfeinde“. Auf der anderen Seite operierte er
aber auch mit paternalistisch-integrativen Instrumenten,
um die Bevölkerung an den monarchischen Staat zu binden
und die Nation, jenseits des Parteienpartikularismus, zu ei-
nen: mit der die Massen elektrisierenden Kolonialpolitik
und mit dem europaweit singulären Sozialversicherungs-
werk der achtziger Jahre.
In Bismarcks politischem Ansatz überlagerten sich
mithin moderne und konservative Elemente. Seine Kunst,
Politik zu machen, war die einer Legierung von Restaura-
tion und Revolution, also Kanalbau statt Dammbau. Ob sol-
cher Methoden haben ihn schon die Zeitgenossen als „kö-
niglich preußischen Revolutionär“ (Friedrich Engels) und
als „weißen Revolutionär“ (Ludwig Bamberger) bezeich-
net. Moderne Buchtitel sind dieser Einschätzung gefolgt.
Dabei zeigte sich Bismarck als ein Virtuose der Politik, als
ein Mann des Machtkalküls und der Ausmanövrierung der
Gegenkräfte. Er verstand es, präzise und mit untrüglichem
serscharfer Analytik, in bestechender Klarheit und gewürzt
Blick die Bruchlinien zwischen den Fronten zu diagnosti- mit eingängigen Metaphern in Denkschriften zu Papier zu
zieren. Und er holte sich seine Verbündeten undWerkzeuge bringen.
dort, wo es niemand erwartete. Weit davon entfernt, ein aus-
rechenbarer System- oder Weltanschauungspolitiker mit
Denkmal oder Dämon? – Mythos und
unverrückbaren Leitvorstellungen und ehernen Prinzipien
Erblast des Reichsgründers
zu sein, funktionierte er die Politik zum intellektuellen Spiel
um, zur „Schachpartie“, wie er sagte. Ihre Züge waren elas-
Wie hoch aber bemaß sich der Preis, den Nation und Ge-
tisch und doch zielgenau bemessen; lauernd und auslotend,
sellschaft für diese Politik und die unbezweifelbaren Leis-
gleichwohl im Risiko wohlkalkuliert. Sie hielten sich Rück-
tungen, die sie hervorbrachte, zu entrichten hatten? Wie fa-
zugslinien und Auswege offen und hatten mögliche Gegen-
tal war die Weichenstellung der Reichsgründung von 1871
züge der anderen Seite schon vorausberechnet, bevor diese
für die Beziehungen nach außen? Sie zurrte die Dauerfeind-
Wirklichkeit wurden. Stets kannte Bismarck mehrere Wege
schaft mit Frankreich fest, sie machte den Machtstaat in der
zum Ziel. Ein eindimensionales, ideen- und alternativloses
Mitte erpressbar, und das präventiv ausgelegte Bündnissys-
Handeln war ihm fremd. Unerreicht ist bis heute seine Fä-
tem, das Bismarck als Antwort auf dieses Dilemma fand,
higkeit, mit seismographischer Witterung mögliche Gefah-
etablierte das Blockdenken auf dem Kontinent als Stilele-
renherde zu antizipieren, ein Problem nach allen Seiten hin
ment internationaler Politik.
profund zu durchdenken, es wie ein Pathologe zu sezieren
Wie hoch war der Flurschaden im Innern, den der
und das Ergebnis seiner Reflexion in unübertroffener, mes-
ehemalige Deichhauptmann von der Elbe in der deutschen
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1901 wurde zu Ehren des ehemaligen Reichskanzlers ein Denk-
mal vor dem Berliner Reichstag enthüllt (hier eine Aufnahme aus
dem Jahr 1931). Es wurde 1938 von den Nationalsozialisten an
den Großen Stern versetzt, um für die von Albert Speer geplan-
ten „Germania“-Monumentalbauten Platz zu schaffen.
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo/Fotograf: Scherl
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