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Otto von Bismarck – Erblast und Erbe
Alles, wofür Otto von Bismarck (1815–1898) stand, scheint verschwunden: das Kaiser-
reich, dessen stärkster Gliedstaat Preußen, die deutsche Monarchie, die Traumata des
Reichsgründers: der Alpdruck der Koalitionsbildung von außen und die Bedrohung
durch Revolution und Reichsfeinde von innen, und nicht zuletzt die so verhängnis-
volle Dauerfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland.
Was also ist von Bismarck übriggeblieben? Wie bemisst sich die Wirkung seiner histo-
rischen Leistung in der deutschen Geschichte? Und worin liegt seine ungebrochene
Aktualität für die Gegenwart und deren Probleme?
Alles, wofür Bismarck stand, ist heute verschwunden: Das
Kaiserreich, mit seiner zunächst defensiv bleibenden, dann
zunehmend offensiven Machtprojektion nach außen; die
preußisch-deutsche Monarchie, mit ihren kryptoabsolutis-
tischen Zügen und der Regierung über den Parteien und
über dem Parlament; Bismarcks Heimat, Preußen, der weit-
aus stärkste Gliedstaat und das konservative Bollwerk des
Reiches, mitsamt seinen Eliten und dem ostelbischen Jun-
kertum, demBismarck selbst entstammte; die Traumata und
Leitmotive von Bismarcks Politik: Der aus Mittellage des
Reiches und Mehrfrontendruck geborene „
cauchemar des
coalitions
“, um potenzielle Gegner in kunstvoller Bündnis-
architektonik auseinanderzuhalten, sowie der nach innen
gerichtete „
cauchemar des révolutions
“, aus dem sich der
beständige Abwehrkampf gegen sogenannte „Reichsfein-
de“ speiste und dessen Ziel die Zementierung des Status quo
in Staat und Gesellschaft war; und auch die so verhängnis-
volle Dauerfehde zwischen Frankreich und Deutschland ist
obsolet, die Bismarck mit seiner Reichsgründung auf eine
neue Stufe hob, die ihm schlaflose Nächte bereitete, und die
die deutsche Politik für Jahrzehnte so verhängnisvoll über-
schattete. Überlebt haben nur die ungeliebten Elemente in
Bismarcks politischemArsenal: das zur Domestizierung der
Arbeiterschaft eingeführte Paket an Sozialversicherungs-
leistungen, das als Kampfmittel gegen den Liberalismus
konzipierte allgemeine und gleiche Wahlrecht sowie die im
„Kulturkampf“ gegen die katholische Kirche aus der Taufe
gehobene Zivilehe vor dem Standesamt.
Desillusionierende Bilanz und
triftige Fragen
Angesichts dieser ernüchternden Bilanz der Ära Bismarck
hat man immer wieder die Frage gestellt, ob Bismarcks his-
torische Leistungen, ob sein Werk und die es tragenden
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Fundamente, Ideen und Kräfte von Beginn an den Keim des
Verfalls, ja des Scheiterns in sich trugen. War er es, der seine
Nachfolger dazu verleitete, eine Leiter an den Himmel zu
stellen? War er es, der die deutsche Geschichte auf jenen un-
heilvollen „Sonderweg“ zwang, der mit Hitler und demNa-
tionalsozialismus in der Katastrophe endete? Lag in Bis-
marcks Wirken, lag in seinen Methoden, Politik zu gestalten
und das Staatsleben zu formen, tatsächlich jene Erbsünde
beschlossen, die in zwei monumentalen Kriegen das von
ihm begründete Reich so vollständig verschlang, dass nur
noch ein „Schrumpfdeutschland“ übrig blieb, geläutert
durch die finstere Vergangenheit eines beispiellosen Zivili-
sationsbruches, mit einem anderen Selbstverständnis, mit
neuen Wertvorstellungen und im Schlagschatten des düste-
ren Erbes gefangen?
Die folgenden Ausführungen versuchen, darauf ei-
ne Antwort zu finden. Sie bestehen aus drei Teilen: aus der
Frage nach den Eigentümlichkeiten und Merkmalen von
Bismarcks Politikverständnis; aus der Frage, welche Erblast
Bismarck den Deutschen auf die Schultern lud, und ob die-
ses Erbe den Wegweiser schuf für das, was nach ihm kam;
sowie aus Überlegungen zur Aktualität Bismarcks und zu
seinem Vermächtnis, das bis in unsere Tage reicht und ge-
genwärtige Erscheinungen und Politikmuster konditio-
niert.
Bismarck und die Kunst der Politik
Bismarcks Handeln wurde von zwei zentralen Polen be-
stimmt: vom preußischen Machtegoismus und von der Im-
munisierung der monarchischen Herrschaft gegenüber al-
len emanzipatorischen und egalitären Tendenzen immoder-
nen Staat. Zielte das eine Axiom auf die Brechung der
habsburgischen Vormachtstellung in Mitteleuropa, auf die
Sprengung des Deutschen Bundes und auf die Konzentrie-
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