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Einsichten und Perspektiven Themenheft 1 | 16
Mein Kampf
als historische Quelle
Schließlich ist aber eine Reflexion der Quelleninterpreta-
tion notwendig, bei der das Vorgehen und das Ergebnis
rückblickend überprüft werden. So kann deutlich werden,
dass Hitlers
Mein Kampf
zwar heute als die zentrale ideo-
logische Schrift des Nationalsozialismus gilt, jedoch erst
mit der Zeit dazu gemacht wurde oder dass die Ideologie
nur ein Element bei der Erklärung des Nationalsozialis-
mus und des Holocaust sein kann.
Mein Kampf –
Kontexte der schulischen und außer-
schulischen Thematisierung
Eine genauere Untersuchung des Buches zeigt die ver-
schiedenen Kontexte, die sich je nach Blickwinkel erge-
ben. Bevor einige davon später erläutert und für die histo-
risch-politische Bildungsarbeit erschlossen werden, sollen
sie im Überblick kurz skizziert werden.
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Zunächst kann das Buch für sich betrachtet werden.
Dies ist der
quellenkundliche Kontext.
Dabei zeigt sich,
dass es in vielfältigen Ausgaben vorliegt, von der einfa-
chen Buchhandelsausgabe bis hin zum Prachtband, von
der zunächst getrennten Veröffentlichung in zwei Bänden
bis hin zur zweibändigen „Volksausgabe“ von 1930, von
den deutschen Auflagen bis hin zu vielen Übersetzungen.
Bereits beim Blättern fällt manches auf: die Umschlagge-
staltung, die Elemente der Haupttitelseite, das Foto des
Autors Adolf Hitler, die Schriftgestaltung, die Werbe-
anzeigen am Ende – schon bevor man zu lesen beginnt,
erhält man Informationen über das Buch.
Von Interesse ist zunächst der Verfasser Adolf Hitler,
zumal das Buch auch als Autobiografie zu lesen ist. Da
über Hitlers privates Leben vor seiner politischen Karriere
wenig bekannt ist und er sorgsam alle einschlägigen Infor-
mationen darüber kontrolliert hat, sind seine Aussagen in
Mein Kampf
für seine Biografie relevant
(biografischer
Kontext).
Dabei ist zu bedenken, dass Hitler nicht nur
ein stark geschöntes Bild seiner Person zeichnet, sondern
auch beschönigende oder schlicht falsche Angaben macht.
Hitler berichtet aber nicht nur über sich selbst, sondern
auch über die Frühgeschichte der NSDAP und entwi-
ckelt programmatische Vorstellungen zum Aufbau einer
nationalsozialistischen Bewegung. Dies ist der
parteige-
schichtliche Kontext.
Bedeutsam ist weiterhin der
Entstehungskontext:
Wann und wie ist das Buch entstanden? Darüber gibt Hit-
21 Aufschluss darüber gibt die Einleitung der Edition: Hartmann u.a. (wie
Anm. 2), hier Bd. 1, S. 7–84, bes. S. 8–53, sowie bis Kriegsende das Stan-
dardwerk von Othmar Plöckinger: Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers
„Mein Kampf“ 1922–1945, München
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2011.
ler selbst im Vorwort Auskunft; verschiedene aufwändige
Forschungen haben den verschlungenen Produktionspro-
zess erhellt. Festzuhalten bleibt, dass
Mein Kampf
, auch
wenn andere als Berater und Helfer beteiligt waren, Hit-
lers eigenes Werk ist.
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Das Buch wurde vom Münchner Eher-Verlag bis zum
Kriegsende publiziert
(Publikationskontext).
Eine nähere
Betrachtung der Auflagenzahlen ergibt interessante Ergeb-
nisse. Anlass zu heftigen Diskussionen und zu intensiven
Nachforschungen bot die Frage, ob Hitlers Buch auch
tatsächlich gelesen wurde, ob also seine politischen Ziele
bekannt waren. Dieser
Rezeptionskontext
muss dabei für
die Zeit vor und nach 1933 getrennt betrachtet werden.
Erst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten
wurde es nicht nur massenhaft verbreitet, sondern auch als
„Herrschaftssymbol“ inszeniert und propagandistisch als
„Herrschaftsinstrument“ genutzt
(Propagandakontext).
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Entscheidend ist aber der Inhalt des Buches, denn neben
den autobiografischen Elementen enthält es in zusam-
menhängender Form Hitlers Weltanschauung
(ideologi-
scher
bzw.
ideengeschichtlicher Kontext).
Auch wenn
der Nationalsozialismus nach seinem Selbstverständnis
weniger durch Schriften als durch Reden, weniger durch
Ideen als durch Taten, weniger durch Argumentation als
durch Aktionen wirken wollte, ist die Kenntnis der Ideo-
logie unverzichtbar – und diese beruht ganz wesentlich
auf
Mein Kampf
, auch wenn es noch weitere Programm-
schriften gibt. Allerdings handelt es sich nicht um eine
eigene Theorie; vielmehr versteht es Hitler, die gängigen
Vorstellungen, die in völkischen Kreisen vielfach verbrei-
tet und diskutiert wurden, zu bündeln. Dabei reichen die
ideengeschichtlichen Traditionen weit ins 19. Jahrhundert
zurück. Auch wenn seine Ausführungen wenig originell
sind, ist die Breite der Themen, die Hitler abhandelt,
bemerkenswert. Dies stellt die Frage nach der Gattung
(Gattungskontext),
denn das Buch ist gleichermaßen
Autobiografie, Geschichtsbuch und Programmschrift.
Wurde dieses Programm dann nach 1933 auch so umge-
setzt? Die Frage nach dem
Wirkungskontext
bezieht sich
vor allem auf die vielfältigen Verbrechen des National
22 Vgl. Plöckinger (wie Anm. 21), S. 121: „Wie dargestellt erreichte niemand
einen so entscheidenden Einfluss, dass er tatsächlich als Mitarbeiter be-
zeichnet werden könnte.“
23 Plöckinger ebd., S. 405, stellt fest: „[…] [S]eit Frühjahr 1933 wurde mit
großer Intensität daran gearbeitet, Mein Kampf als ein Symbol des nati-
onalsozialistischen Herrschaftsanspruches zu inszenieren und zu etablie-
ren. Mit der forcierten Verbreitung des Buches ab 1935/36 und erneut ab
1942/43 wurde das Buch darüber hinaus zu einem Instrument der Herr-
schaftsausübung“.