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Rezeption der Weißen Rose in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR

Einsichten und Perspektiven 3 | 16

Die Studenten, Dozenten und Professoren der Friedrich-

Schiller-Universität Jena, die sich besonders eng mit ihnen

verbunden fühlen, versammeln sich zu einer Feierstunde.

Der Rektor, Professor Dr. Günter Drefahl, verliest zur

Eröffnung ein Grußschreiben Vater Scholls. Professor Dr.

Otto Stamfort, Direktor des Instituts für Pädagogik, sagt

in seiner Ansprache, das Vermächtnis des Geschwisterpaa-

res sei in der DDR erfüllt.“ 

24

Widerstand in der DDR – Weiße Rose als Vorbild

Regimekritische Positionen und Widerstand innerhalb

der SBZ und frühen DDR sind bis heute kaum ins kul-

turelle Gedächtnis eingedrungen. Dabei kam es gerade in

der Phase der Konsolidierung der sozialistischen Diktatur

in Ostdeutschland zu einer Reihe von Protest- und Ver-

folgungswellen, der zahlreiche Verhaftungen und sogar

Hinrichtungen folgten. In der Hoffnung, gegen das sich

stabilisierende Unrechtssystem noch etwas ausrichten zu

können, entschlossen sich viele ostdeutsche Bürgerinnen

und Bürger, hierunter zahlreiche Jugendliche und Stu-

denten, zu Widerspruch und Protest, was schwer bestraft

wurde. So kam es bereits in der SBZ bei der Reformierung

der Sozialstruktur (Bodenreform und Enteignung) oder

bei der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED

zu Verhaftungen und Verurteilungen. Die Durchsetzung

des undemokratischen Wahlsystems in der DDR und die

Bildung der Blockparteien forderten neben dem Kirchen-

kampf weitere Opfer. Schließlich wurden beim Volksauf-

stand am 17. Juni 1953 etwa 1.600 Teilnehmer verurteilt

und über 50 Menschen während oder nach dem Protest

getötet.

Vergessener Widerstand 

25

„Ein[e] vollständige Übersicht über Widerstand und

Opposition an den Hochschulen der SBZ und DDR exis-

tiert bisher nicht. Die Dunkelziffer, vor allem im Bereich

von Relegationen, ist sehr groß. Eine 1962 in letzter Fas-

sung erschienene Dokumentation des Verbandes Deut-

scher Studentenschaften, danach nicht mehr weiterge-

führt, führt etwa 1.100 Studenten, Hochschulangehörige

und Studienbewerber auf, die von 1945 bis 1961 verhaf-

tet, d.h. länger als drei Monate in Haft geblieben sind und

24 Drobisch (wie Anm. 18), S. 63.

25 Klaus-Dieter Müller: Opposition und Widerstand an den Hochschulen der

SBZ/DDR bis zum Mauerbau – das Beispiel Greifswald, in: Heinz-Peter

Schmiedebach/Karl-Heinz Spiess (Hg.): Studentisches Aufbegehren in der

frühen DDR. Der Widerstand gegen die Umwandlung der Greifswalder

Medizinischen Fakultät in eine Militärmedizinische Ausbildungsstätte im

Jahr 1955, Stuttgart 2001, S. 31–58, hier S. 39f.

in meist nicht-öffentlichen Verfahren verurteilt und für

Jahre in sowjetische Lager oder deutsche Zuchthäuser ver-

bracht wurden. Eine nicht geringe Zahl wurde zum Tode

verurteilt, von diesen wurden die meisten vermutlich auch

hingerichtet. Ein Teil der Verurteilten und Eingekerkerten

verstarb infolge der Haftbedingungen oder an den Folgen

der Haft. Von manchen fehlt bis heute jede Nachricht.“

Die Kritik an der bisher mangelhaften Wahrnehmung des

Widerstands in SBZ und DDR, wie sie von Klaus-Dieter

Müller bereits vor einigen Jahren formuliert wurde, hat

daher bis heute durchaus ihre Gültigkeit:

„Der Widerstandswille der Weißen Rose z.B. ist zum

Allgemeinwissen und zu einem integralen Bestandteil der

politischen Bildung in Deutschland als Beispiel für das

andere Deutschland während des Dritten Reiches gewor-

den. Daß es aber in der SBZ und DDR einen ganzen

Strauß weißer Rosen gab – auch eine andere DDR –, ist

weithin unbekannt geblieben. Nicht wenige Studenten,

die gegen das System opponierten, nahmen ihre Kraft aus

Beispiel und Ethos der Weißen Rose.“ 

26

Dabei eröffnet das Zitat, neben der Abgrenzung des

vergessenen DDR-Widerstands zur kollektiven Gedächt-

nistradition an die Weiße Rose in (Gesamt)-Deutschland,

eine interessante Perspektive auf die Beziehung zwischen

ostdeutscher Opposition (zur sozialistischen Diktatur) und

MünchnerWiderstandsgruppe (gegen den Nationalsozialis-

mus). Denn neben der verordneten und staatlich gelenkten

Erinnerung an die „Geschwister Scholl“ in Ostdeutschland

wirkte hier auch eine oppositionelle Rezeption der Weißen

Rose in einzelnen jugendlichen Resistenzkreisen, die sich

an der Zivilcourage und am politischen Widerspruch gegen

den Nationalsozialismus wirklich orientierten.

So fand etwa der Schülerkreis in Altenburg um Hans-

Joachim Näther „Vorbilder gerade im Widerstand gegen

das faschistische Regime u.a. in der ‚Weißen Rose‘ der

Geschwister Scholl, im Buch ‚Die Illegalen‘ von Günter

Weisenborn, im Roman ‚Das siebte Kreuz‘ von Anna Seg-

hers“. 

27

Oder die Widerstandsgruppe der „Werdauer Ober-

schüler“ um Achim Beyer las zur Diskussion und Vorberei-

tung eigener Schriften die Flugblätter der „Weißen Rose“. 

28

26 Ebenda. Die Internetseite „jugend opposition in der DDR“ befasst sich in

Darstellungen, Dokumenten und Interviews inzwischen intensiv mit dem

Thema. Siehe:

http://www.jugendopposition.de/.

27 Wolfgang Enke/Hans-Joachim Näther, in: Karl Wilhelm Fricke u.a. (Hg.):

Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder, München

2002, S. 124–129, hier S. 127.

28 Andreas Eberhardt/Achim Beyer, in: ebd., S. 146–151, hier S. 147.