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Rezeption der Weißen Rose in der Sowjetischen Besatzungszone und frühen DDR
Einsichten und Perspektiven 3 | 16
Vollkommenes Unverständnis äußerte die Hochschul-
gruppenleitung der FDJ aber schließlich gegenüber
der Haltung des Rektors der Universität, Eugen Ulmer
(1903–1988),
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der beschloss, „daß der Kranz nicht oder
nur ohne die Schleifen an seinen Platz an dem Mahnmal
zurückgebracht“ werden solle:
„Im Namen der Mitglieder der FDJ und aller Studen-
ten der Friedrich-Schiller-Universität Jena, deren anti-
faschistische Haltung mit der Denkmalschändung von
München beleidigt wurde, verurteilen wir entschieden
die faschistische Provokation an der Gedenkstätte für
antifaschistische Helden. Wir sehen in diesem Ereignis
ein Symptom der verhängnisvollen Entwicklung in ganz
Westdeutschland.“
Das Ringen umden rechtmäßigen Erinnerungsanspruch
wurde, wie an diesem Beispiel deutlich wird, unmittelbar
ideologisch ausgebeutet und im weltanschaulichen Kon-
flikt instrumentalisiert. Entsprechend fiel die Reaktion in
Ostdeutschland an anderer Stelle als grundlegende System-
kritik polemisch aus:
„Die Vorgänge in München beweisen mithin, daß die
herrschenden Kräfte in Bundesdeutschland das Anden-
ken antifaschistischer Widerstandskämpfer mit derselben
Skrupellosigkeit verfälschen und schänden, mit der sie den
Mörder Oberländer [
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] auf der Regierungsbank zu decken
bestrebt sind. Westdeutschlands Studenten aber sollten sich
insbesondere daran erinnern, daß die Geschwister Scholl
leidenschaftlich vor dem Antikommunismus warnten.“
Gedenkzentrum Friedrich-Schiller-Universität Jena
Dass es gerade Jenaer Studierende nach München zog,
war kein Zufall. Zu Beginn der 1960er Jahre wurde in der
DDR die Erinnerungsarbeit zurWeißen Rose an der Fried-
rich-Schiller-Universität in Jena verankert. Man betrach-
tete ihre Studierenden als „Sachwalter des Vermächtnisses
der Geschwister Scholl“ – so der Titel des bereits zitierten
Artikels der „Sozialistischen Universität. Organ der SED-
Parteileitung der Friedrich-Schiller-Universität in Jena“.
Wie es in der eigenen Berichterstattung hieß, fanden sich
20 Der Jurist Eugen Ulmer war seit 1955 Professor an der LMU und zwischen
1965 und 1973 Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und
internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht in München.
21 Theodor Oberländer (1905–1998) war Mitglied der NSDAP und unter an-
derem „Dozent für Ostfragen“ beim Außenpolitischen Amt der NSDAP.
Oberländer war 1953–1961 und 1963–1965 zunächst als Abgeordneter
des Bundes der Heimatvertriebenen und Geächteten (BHE) und seit 1957
der CDU Mitglied des Deutschen Bundestages, 1953–1960 Bundesminis-
ter für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte und trat schließlich
wegen seiner NS-Vergangenheit zurück.
an der Universität Jena am „gleichen Tag, da faschistische
Elemente an der Universität München das Andenken der
Geschwister Scholl in der geschilderten Weise beschmut-
zen, […] im großen Saal des Volkshauses etwa 1400 Stu-
denten […] zu einer machtvollen Kundgebung und einem
eindrucksvollen Bekenntnis […] zum antifaschistischen
Vermächtnis der Geschwister Scholl zusammen“. Diese
Veranstaltung wurde angeführt von der Hochschullei-
tung, Professoren und hochrangigen FDJ-Vertretern. Der
1. Sekretär der FDJ-Hochschulgruppenleitung stellte das
Engagement der Jenaer Studentenschaft in direkten welt-
politischen Zusammenhang:
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„Als Sachwalter des Vermächtnisses der Geschwister
Scholl protestieren wir vor aller Welt in dieser ernsten
historischen Stunde gegen neue Atomwaffenexperimente.
Insbesondere gegen den französischen und westdeutschen
Anschlag auf den Weltfrieden und die Gipfelkonferenz.
Angesichts der aktuellen Kriegsgefahr gilt es jetzt, auch
das ganze Gewicht akademischer Autorität und studenti-
scher Begeisterung in die Waagschale zu werfen, um den
internationalen Frieden zu sichern und einen Bruderkrieg
zu verhindern. Das sind wir Hans und Sophie Scholl
schuldig, denn ihr ganzes Wirken war immer wieder ein
Aufruf zur Entscheidung und zur Tat für den Frieden!“
Die Jenaer Universität entwickelte sich in den kom-
menden Jahren gegenüber der LMU München zur
ostdeutschen Alternative universitärer Erinnerungs-
veranstaltungen für die Weiße Rose. Innerhalb dieser
Gedächtnistradition in der DDR stellte die Gedenkfeier
zum 20. Todestag von Christoph Probst, Hans und Sophie
Scholl am 19. Februar 1963 ein besonderes Ereignis dar.
Eine Gedenktafel wurde enthüllt und neben den akade-
mischen Gästen nahmen Mitglieder des Zentralrats der
DDR sowie aus Jenaer Betrieben und Jungbrigaden (die
den Namen der Geschwister Scholl trugen) daran teil.
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Mit der Einladung von Robert Scholl und Inge Aicher-
Scholl versuchte man zudem auch Familienangehörige
der Münchner Widerstandsgruppe für die Gedenkarbeit
in Ostdeutschland zu gewinnen, die aber nicht an der Ver-
anstaltung teilnahmen:
„Ein Höhepunkt der Ehrungen für die Geschwister
Scholl in der DDR ist der 20. Jahrestag ihrer Ermordung.
22 In Paris hatte im Dezember 1959 sowohl eine Konferenz des Atlantikpakt-
rates als auch eine westliche Gipfelkonferenz stattgefunden. Gegenstand
des NATO-Treffens waren Fragen über den Status von Berlin und die Lage-
rung von Atomwaffen auf europäischem Boden, die westliche Gipfelkon-
ferenz bereitete den Ost-West-Gipfel im Mai des kommenden Jahres vor.
23 Ernst (wie Anm. 4), S. 48 f.