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Bunte Koalitionsrepublik Deutschland
Einsichten und Perspektiven 2 | 17
das mit einer fundamentalen Kritik am Islam („Der Islam
gehört nicht zu Deutschland“).
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Parallel dazu versuchte sie,
sich weiter als Anti-Establishment-Partei zu profilieren, um
Protestwähler anzuziehen.
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Die für ihre Gründung impuls-
gebende Euro- und EU-Kritik spielt inzwischen nur noch
eine untergeordnete Rolle. So oder so gelang ihr in fast allen
zurückliegenden Landtagswahlen der Einzug in die Länder-
parlamente. Nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen im Mai
2017 ist sie in 13 Landtagen vertreten (nur in einem weniger
als die Grünen und in zwei mehr als die Linkspartei).
Der AfD-Bundesparteitag in Köln im April 2017 ver-
deutlichte aber zugleich, dass in der Partei unterschiedliche
Auffassungen über programmatische Schwerpunkte und
Strategien für die Bundestagswahl existieren, über welche
teils erbitterte Kämpfe ausgetragen wurden. Bislang hat
die innerparteiliche Zerstrittenheit der AfD scheinbar
nicht geschadet, wobei sich jedoch in den Umfragen zur
Bundestagswahl nach dem Höhepunkt der Flüchtlings-
krise ein langsam sinkender Trend zeigt.
In jedem Fall fährt die AfD einen radikalen Oppositi-
onskurs und ist nicht zu Regierungsverantwortung bereit –
allerdings will auch keine der etablierten Parteien mit ihr
koalieren. Sollte sie in den Bundestag einziehen, nimmt sie
mit ihrem Sitzanteil nicht am Koalitionsspiel teil. Die von
ihr besetzten Sitze fehlen aber alternativen Optionen für eine
Mehrheit, so dass sie auch mit ihrer Außenseiterposition die
Mehrheitsarithmetik für die anderen Parteien beeinflusst.
Ein weiteres Kennzeichen des deutschen Parteiensys-
tems, das für die Regierungsbildung besondere Relevanz
hat, ist die Existenz der zwei Volksparteien Union und
SPD sowie deren Relation zueinander. Zwar verlieren
beide Parteien seit den 1970er Jahren kontinuierlich an
Mitgliedern, dennoch dominieren sie weiterhin die Par-
teienlandschaft und bilden auch programmatisch milieu-
übergreifend ein breites gesellschaftliches Spektrum ab.
Dabei ist die Bundesebene von einer Asymmetrie zuguns-
ten der CDU gekennzeichnet, die meist vor der SPD liegt.
Nur bei einigen wenigenWahlen lagen die beiden Parteien
gleich auf und nur einmal – 1998 – die Sozialdemokraten
weit vor der Union. Das war auf die besonderen Bedin-
22 Vgl. Frank Decker: Die Ankunft des neuen Rechtspopulismus im Parteien-
system der Bundesrepublik, in: Andreas Blätte/Christoph Bieber/Karl-Ru-
dolf Korte/Niko Switek (Hg.): Regieren in der Einwanderungsgesellschaft.
Impulse zur Integrationsdebatte aus Sicht der Regierungsforschung,
Wiesbaden 2017, S. 55–61.
23 Vgl. Marcel Lewandowsky/Heiko Giebler/Aiko Wagner: Rechtspopulismus in
Deutschland. Eine empirische Einordnung der Parteien zur Bundestagswahl
2013 unter besonderer Berücksichtigung der AfD, in: Politische Viertel
jahresschrift 2 (2016), S. 247–275.
gungen dieser Wahl zurückzuführen, bei der Bundeskanz-
ler Helmut Kohl eine fünfte Amtszeit anstrebte, was selbst
in seiner eigenen Partei in Teilen kritisch gesehen wurde.
Dem Herausforderer Gerhard Schröder (SPD) gelang es
hingegen, die Wechselstimmung für sich zu nutzen.
Der Abstand der beiden führenden Parteien ist im Fall
erstens relevant für die Frage der Kanzlerschaft, da die
stärkere Partei nach ungeschriebenem Gesetz Anspruch
auf den Posten des Regierungschefs hat. Zweitens leitet
sich hiervon ab, inwieweit ein Zweierbündnis mit einer
kleineren Partei auf eine Mehrheit kommt oder ob hierfür
ggf. mehrere Juniorpartner notwendig sind.
Entsprechend groß war die Euphorie in den Reihen der
Sozialdemokraten, als nach dem überraschenden Rückzug
des Wirtschaftsministers und Parteivorsitzenden Sigmar
Gabriel der Präsident des Europaparlaments und ehema-
lige europaweite Spitzenkandidat Martin Schulz über-
nahm und die SPD in Umfragen zur Union aufschloss.
Erstmals seit langem schien wieder eine Machtperspektive
für einen SPD-Kanzler greifbar. Überdurchschnittlich
viele Eintritte von Neumitgliedern wurden verzeichnet.
Allerdings verpuffte dieser Effekt in den Umfragen rasch
wieder (wozu sicher die sozialdemokratischen Wahlnie-
derlagen im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-
Westfalen ihren Teil beitrugen). So kommentierte die
Süddeutsche Zeitung schon nach der Wahl in Schleswig-
Holstein: „Aber schlimmer für die SPD ist die Erkenntnis,
dass die Flügel, die ihr Martin Schulz im Januar verpasste,
gestutzt sind. Seine Schubkraft hat Grenzen. Im Augen-
blick geht es für die SPD wieder dorthin, wo sie auf kei-
nen Fall mehr hinwollte: in den 20-Prozent-Keller.“
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Daher gilt wie zuvor, dass nach dem jetzigen Stand nur
für die Union Zweierbündnisse denkbar sind, während
sich die SPD hingegen mit hoher Wahrscheinlichkeit um
zwei Koalitionspartner wird bemühen müssen. Allerdings
haben die letzten Landtagswahlen verdeutlicht, dass sich
Mehrheitsverhältnisse rasch ändern können. Viele Wähler
entscheiden sich erst spät, zugleich sinkt der Anteil der
Wähler mit Parteibindung.
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Somit kann sich auch kurz
vor der Wahl noch Bewegung ergeben.
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Stefan Braun: Schulz-Effekt? Perdu!, sz.de, http://www.sueddeutsche.de/ politik/landtagswahl-in-schleswig-holstein-schulz-effekt-perdu- 1.3492707 [Stand: 07.05.2017].25 Vgl. Rüdiger Schmitt-Beck/Julia Partheymüller: Why voters decide late: A
simultaneous test of old and new hypotheses at the 2005 and 2009 German
federal elections, in: German Politics, 21 (2012), H. 3, S. 299–316; Anne
Schäfer/Rüdiger-Schmitt-Beck: Parteibindungen, in: Rüdiger Schmitt-Beck
u.a. (Hg.): Zwischen Fragmentierung und Konzentration: Die Bundestags-
wahl 2013, Baden-Baden 2014.