aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 10-11

Gebetsmühlenartig wird
der drohende Untergang der
klassischenMusik imKulturleben heraufbeschworen. Zu elitär
sei das Programm, überaltert das Konzertpublikum, so lau-
ten die Kassandra-Rufe der »Untergang-des Abendlandes«-
Warner. Die Besorgnis gilt vor allem der Klassik-Abstinenz
der Jugendlichen und der 18- bis 29-Jährigen. Ein Beispiel
unter vielen: Am 22. Januar 2014 erschien in der Süddeut-
schen Zeitung unter demTitel »Fack juMozart?« ein Brand-
Artikel von Reinhard J. Brembeck, der sich mit dem an-
geblich desolaten Zustand der klassischen Musikszene im
Allgemeinen und mit demWegbrechen der nachwachsenden
Generation im Besonderen beschäftigt. Kein Wunder, dass
die Jungen fortblieben, so schreibt Brembeck, angesichts
langweiliger, elitärer und zu teurer Konzerte, in denen so
oft das Gleiche und viel zu wenig Neues gespielt würde, in
denen es nicht mehr um existenzielle Erfahrungen ginge –
und überhaupt werde die Jugend zu wenig an klassische Mu-
sik herangeführt.
Die angebliche Klassik-Dämmerung
«
Trotz aller Androhungen einer nahenden Klassik-Apokalypse
ist eines zweifelsfrei: Nie habenmehrMenschen amklassischen
Konzertbetrieb teilgenommen als heute. »Klassik« wurde
in den letzten fünfzig Jahren von einer mehr oder weniger
elitären Veranstaltung zu einer massentauglichen Kunstform.
Tatsächlich ist die Kleiderordnung heute bei klassischen Kon-
zerten so weit gelockert, dass selbst eine löchrige Jeans nicht
wirklich auffällt – von elitärer Atmosphäre kann keine Rede
sein, im Grunde darf jeder kommen, so wie er oder sie mag.
Natürlich gibt es ein paar Gala-Veranstaltungen und die
Münchner Opernpremieren, wo man nur hingeht, um gesehen
zu werden. Aber mein Gott, dann lasst sie doch! Außerdem
hat das auch viel mit dem genius loci zu tun: In Amsterdam
beispielsweise, das ein erstklassiges Opernhaus beherbergt,
kommt kein Mensch auf die Idee, sich so aufzumascheln
wie unser Premierenpublikum. Grundsätzlich gilt: So wenig,
wie jemand vom Abendkleid und Smoking ein schlechterer
Zuhörer wird, ist schräge, auffallende oder nachlässige Klei-
dung gut fürs Zuhören.
Und was die
Rezeptionsrituale betrifft: Wollen wir wirk-
lich die Opernbesucher zurück, die sich ihr Schnitzel zur
Oper reinschoben und ratschten, die während der Vorstellung
kamen und gingen – so wie es damals der Brauch war, als
die Konzertkultur noch »lebendig, vibrierend, topaktuell«
(Brembeck) war? Vielleicht ist es ja ein legitimer Gedanke,
dass nicht alle Entwicklungen, die das Bürgertum auf den
Weg brachte, nur eng und spießig sind: Schließlich putzen
wir uns heute alle die Zähne – mit ganz guten Resultaten.
Und schließlich: auch das finanzielle Argument stimmt so
nicht. Die Wahrheit ist ganz einfach, dass es eine Frage der
Prioritäten ist: Die gleichen jungen Menschen, die behaup-
ten, eine Konzertkarte für 20 Euro, bei dem bis zu eine Hun-
dertschaft höchstqualifizierter professioneller Musiker auf-
tritt, sei zu teuer, zahlen ohne mit der Wimper zu zucken für
ein angesagtes Pop/Rock-Konzert oder einen »Act« auch
80 Euro, und die 50 für einen Abend im Club gehen auch in
Ordnung.
Der vielbeschworene Silbersee
All diese Erklärungsmuster sind zu kurz gegriffen und sie
führen auch nicht sehr weit. Denn die Wahrheit ist: Klas-
sische Musik war schon immer eine Sache der Älteren, in
der Regel 60 plus. Ich erinnere mich, als ich in den späten
70er Jahren noch selbst Schüler war, dass in Konzerten und
Opernaufführungen – von Kindervorstellungen wie Hänsel
und Gretel abgesehen – die überwältigende Mehrheit der
Menschen mindestens über 50 war, eher älter. In meiner
Schuljahrgangsstufe waren wir 114 – und ganze drei gingen
in klassische Konzerte. Wir waren die Nerds, die sich unter
die Grau- und Silberhaarigen mischten – nicht anders als
heute.
Dass das so ist, hängt mit den Lebenszyklen zusammen, nach
denen wir uns entwickeln: Junge Erwachsene sind viel zu sehr
damit beschäftigt, die Welt zu entdecken und zu erobern (gar
nicht zu sprechen von den armenWesen, die in der Hölle der
Pubertät stecken). Dann, wenn die Kinder kommen, man sich
ausgetobt hat, würde man ja gerne ins Konzert gehen, aber
es ist soviel zu tun: Partnerschaft, Beruf, Kinder...
Auf diesem Weg hat sich der Begriff selbst verändert: Wäh-
rend »Klassik« früher als Synonym für die sogenannte
»E-Musik« benutzt und mit guten Gründen von der
»U-Musik« unterschieden wurde, ist die Grenze durchlässig
geworden: Heute werden auch Filmmusik-Aufführungen
oder Crossover-Auftritte zur »Klassik« gerechnet, was die
Aussagekraft von statistischen Daten, wer denn überhaupt
»Klassik« höre, schwierig macht.
Auf jeden Fall
gab es noch nie ein größeres Angebot an
klassischer Musik. Noch vor 40 Jahren bediente ein städti-
sches Orchester Oper und Konzert gleichermaßen (in den
großen Städten waren es zwei), lokale Konzertveranstalter
holten die bekannten Namen in die Konzertsäle; in denMet-
ropolen gab es ein paar versprengte Originalklang-Ensembles
sowie eine heftig subventionierte Neue-Musik-Szene, meist
assoziiert mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Inzwischen hat sich eine ungeheuer reiche Musiklandschaft
aus zahlreichen freien, unabhängigen Ensembles entwickelt,
in der hervorragende Musikerinnen und Musiker in den
unterschiedlichsten Kombinationen spannendste »Klassik«
spielen, dabei allerdings auch umAufmerksamkeit und Pub­
likum konkurrieren. Zudem haben sich, seit klassische Musik
weitgehend als Ware begriffen wird, die Marktgesetzen un-
terliegt, Allianzen von (teilweise international agierenden)
Veranstaltern und Großkonzernen der Musikindustrie auf der
einen und den klassischenMedien Rundfunk, Fernsehen und
Zeitung auf der anderen etabliert (Stichworte: Cross-Selling,
Medienpartnerschaft), die mit ihrer Werbemacht die tatsäch-
liche Vielfalt in der öffentlichen Wahrnehmung überdecken.
Genau genommen gibt
es auch nicht mehr »das Klas-
sik-Publikum« früherer Zeiten. In einer pluralistischenWelt
können verschiedene musikalische Erfahrungen nebenein-
ander bestehen. So wie sich die Klassen-Gesellschaft in ver-
schiedene Milieus ausdifferenziert hat, gibt es heute viele
unterschiedliche Gruppen von Menschen, die »klassische«
Konzerte besuchen: Da sind die letzten Reste des Bildungs-
bürgertums, die früher die ganze »Klassik« getragen haben
und die die herkömmlichen Programme bevorzugen: seriöse
Werke, gespielt von großen Namen. Andere haben eigentlich
gar keinen Bezug zu Klassik, gehen aber gerne zu großfor-
matigen Events mit anschließender Party. Es gibt Menschen,
die sich am »easy classic« des beliebten (kommerziellen) Sen-
ders »Klassik-Radio« orientieren ebenso wie diejenigen, die
vor allem wegen des Ambientes zu einem bestimmten Kon-
zert gehen und für die sowohl Komponisten als auch Inter-
preten unwesentlich sind. Es gibt Spezialensembles für alte
und neue Musik, Konzerte mit geistlicher Musik, und auch
Oper und Konzert haben vom Publikum her weniger mitein­
ander gemein, als man denken sollte.
Parallel zu dieser Entwicklung ist Musik heute in ihrer digita-
lisierten Form zu jeder Zeit und an jedemOrt der Welt verfüg-
bar geworden. Das hat einerseits die Verbreitung von Klassik
gefördert, andererseits auch Auswirkungen auf den Konzert-
besuch – wie auch ein gewandelter, erweiterter Kulturbegriff,
in dem der Besuch eines Konzertes durchaus nicht mehr als
etwas »ganz Besonderes« gilt, sondern als gleichberechtigte
Alternative zu einemKinobesuch, einem Sushi-Essen, einem
Abend mit Freunden oder einem PC-Spiel empfunden wird.
In diesem Gesamtbild
ist eine allgemeine Klassik-Däm-
merung derzeit also nicht zu beobachten, und Klassik ist
längst keine elitäre Angelegenheit mehr. Die Künstler sind –
mit Unterstützung der Politik – schon seit hundert Jahren
immer wieder auf Menschen aus bildungsfernen Schichten
zugegangen, haben in Fabrikhallen gespielt, in Schulen und
in Turnhallen. Heute gibt es praktisch keinen Ort, wo heut-
zutage nicht Klassik gespielt würde. Heute wäre Bildung für
jeden und jede fast zum Nulltarif zu haben – wenn er/sie sie
denn wollte, oder genauer: überhaupt wollen könnte. Denn
der Zugang zu und der Umgang mit Bildung ist etwas, das
erlernt werden muss.
Staub aus den Fräcken pusten?
Fakt ist also: Wir haben eine ausdifferenzierte Klassikszene
und vielfältige Partizipationsangebote, aber die Jugendlichen
gehen nicht hin. Aber ist es wirklich das überalterte Publikum
mit seinem »spießigen Dresscode« (Brembeck) und seinen
verstaubten Rezeptionsritualen, das die Jugend abschreckt?
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oben
Kinder, die konzentriert einem klassischen Konzert der
taschenphilharmonie
in der Münchener Allerheiligenhofkirche lauschen.
Warum die Jungen in Klassik-Konzerten wegbleiben und
wie wir die Jüngsten neugierig machen können
Text:
Peter Stangel
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Colloquium
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© Astrid Ackermann
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