aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 28-29

aviso 2 | 2014
QUINTENSPRÜNGE
Colloquium
aviso 2 | 2014
QUINTENSPRÜNGE
Colloquium
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Professor Klaus Hinrich Stahmer
,
geb. 1941 in Stettin,
studierte Musik am Dartington College of Arts/England, der
Musikhochschule Hamburg und an den Universitäten
Hamburg und Kiel. 1969-2004 hatte er eine Professur an der
Musikhochschule Würzburg inne; nebenberuflich war er für
Musikzeitschriften und Radiosender tätig. Er leistete kulturpoli­
tische Arbeit im Deutschen Musikrat und realisierte zahl-
reiche Auslandsprojekte. 1974-2001 gründete und leitete er die
TAGE DER NEUEN MUSIK Würzburg. 1983-87 sowie 2000-2002
war er Präsident der deutschen Sektion der Internationale
Gesellschaft für Neue Musik (IGNM). 1987 leitete er die WELT-
MUSIKTAGE. Seit 1985 Vortrags- und Lehrtätigkeit an
außereuropäischen Hochschulen und Universitäten. 2001-2007
gründete er und leitete er GLOBAL EAR Dresden. 2013 wurde
er in die Freie Akademie der Künste Hamburg aufgenommen.
Zum Hören
: 2006 CD THE DRUM SPEAKS mit Sandile Dikeni
(Rezitation) WERGO
2009 CD SILENCE IS THE ONLY MUSIC mit u.a. Xu Fengxia
(Guzheng), Wu Wei (Sheng), Makiko Goto (Koto), Jocelyn Clark
(Kayagum), Il-Ryun Chung (Changgo), Andreas Gutzwiller
(Shakuhachi) ARTIST CD
2010 CD GESÄNGE EINES HOLZSAMMLERS mit Fuad Rifka
(Rezitation), Gilbert Yammine (Qanun) und Murat Coskun
(Rahmentrommel) ARTIST CD
mich ermutigt und zur Klärung meiner
Haltung beigetragen. Dafür konnte ich
mich in Rundfunksendungen und Zeit-
schriftenartikeln »revanchieren«. Nicht
wenige Komponisten, die mittlerweile
einen festen Platz in den Programmen
der westlichen Konzertveranstalter ha-
ben, sind vonmir schon vor längerer Zeit
interviewt und porträtiert worden, zum
Beispiel der Palästinenser Samir Odeh-
Tamimi, die Koreanerin Unsuk Chin oder
die Israelin Chaya Czernowin Und mir
selbst hat diese Beschäftigung mit jun-
gen Kolleginnen und Kollegen aus fer-
nen Ländern auch viel gegeben.
aviso:
Wie hat man denn in diesen Län-
dern auf Ihre Kompositionen reagiert,
ich meine über Ihre Lehrtätigkeit hin-
aus: Besteht da überhaupt ein Interesse
für, salopp gesagt, chinesische Musik
made in Germany?
Stahmer:
In den Kapitalen des vorde-
ren Orients gibt es an den nach west-
lichem Vorbild funktionierenden Uni-
versitäten und Konservatorien seit rund
20 Jahren Klassen für die traditionellen
arabischen Musikinstrumente und ihre
Theorie. Ähnlich läuft das in Shanghai
und Peking, wo man die gröbsten Fehler der Kul-
turrevolution auszubügeln versucht. Und in Taipeh
gab es schon länger solche Ausbildungszweige
und ein Engagement für das kulturelle Erbe Chi-
nas. Hier werden solche aus Europa kommenden
Ansätze mit Interesse verfolgt, besonders dann,
wenn ich als Westler nicht »predige«, sondern auf-
merksam zuhöre; wenn ich nicht imitiere, sondern
etwas Eigenes anzubieten habe. Vor ein paar Jah-
ren nahm ich in Teipeh an einemWettbewerb teil,
wo Kompositionen für fernöstliche Instrumente
gefragt waren. Ich war der einzige Nicht-Asiate
unter den Bewerbern. Und dann erlebte ich, wie
mein Stück mit äußerster Professionalität von mir
fremdenMusikern einstudiert und gespielt wurde.
Auf den Preis, den ich dann erhielt, bin ich schon
ein wenig stolz, zumal ich das Gefühl hatte, dass
man ihn mir auf Grund einer überzeugenden Auf-
führung zuerkannt hatte.
aviso:
InWirtschaft und Politik findet »interkultu-
relle Kommunikation« als Begriff und als Methode
heute viel Beachtung. Macht die »Sprache der
Musik« die interkulturelle Begegnung einfacher?
Stahmer:
Das ist doch das Tolle an der Musik,
dass es hier auch in der Vergangenheit schon zu
intensivemAustausch kam: Aufgeschlossene Musi-
ker verschiedener Kontinente haben sich getroffen
und zusammen Musik gemacht, neugierige Kom-
ponisten haben die Ohren aufgesperrt. Allerdings
ist aus der, wie ich es mal nennen möchte, »Hau-
ruck-Methode« heutzutage ein intelligentes Mitein­
ander und aufmerksames Zuhören geworden. Da
hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, indem
es heute um echte Gegenseitigkeit geht.
aviso:
Wie sieht gelungener kulturenübergreifen-
der Dialog in der Musik also aus?
Stahmer:
Es darf kein »ethnischer Umarmungs-
kitsch« entstehen! Echten Dialog auf Augenhöhe
erkennt man daran, dass beide Seiten sich wirk-
lich musikalisch auf das jeweils Andere einlassen
und dabei auch ein Stück weit das Eigene aufge-
ben. Das setzt Vorbereitung voraus: Ein Studie-
ren des kulturellen Hintergrundes und auch der
Spielweisen. Erst dann kann etwas Drittes ent-
stehen. Es reicht nicht, einfach gemeinsam ein
wenig zu improvisieren. Das ist viel zu beliebig und
unverbindlich.
aviso:
Wir haben bisher über Interkulturalität in
der Musik aus der Perspektive des Komponisten und
der Aufführungspraxis gesprochen. Welche Mög-
lichkeiten interkultureller Begegnung bietet Musik
für die Rezipienten, die Zuhörer und Zuhörerinnen,
jenseits von Sprache und begrifflichen Konzepten?
Stahmer:
Ich finde es immer wieder faszinierend,
wie unproblematisch das Publikum mit solcher Musik um-
geht. Da gibt es kaum Schwellenangst, weil es keine traditions­
befrachteten Hör- und Erlebensmuster gibt. Wir sind heute
in so vielen Bereichen offen für andere Kulturen, schauen wir
doch nur in die Medizin oder auch die Religion. Gerade die
jungen Zuhörer sind da auch in der Musik sehr offen – und
neugierig! Musik erschließt emotionale Zugänge und trägt
ganz konkret auch zu einer Integration bei. Meiner Meinung
nach befindet sich die zeitgenössische »Ernste Musik« der-
zeit in einer Sackgasse. Da geht es viel zu sehr um Techniken,
die Fachcommunity goutiert besonders ausgefallenes Kom-
positionshandwerk – je raffinierter und subtiler diese Denk-
vergnügungen, desto interessanter für die Insider – aber auch
desto hermetischer verschlossen für ein breiteres Publikum.
aviso:
Könnten Sie am Schluss vielleicht zusammenfassend
sagen, welche Elemente und Strukturen aus anderen musi-
kalischen Auffassungen und kulturellen Traditionen für Sie
selbst besonders prägend waren?
Stahmer:
Ich will es versuchen, obwohl das viele verschie­
dene Aspekte sind. Ich glaube, am wichtigsten ist, dass in
meiner Musik ein ornamentales Denken an die Stelle abend-
ländischer Form- und Gestaltungsmodelle getreten ist. Ich
habe viel von afrikanischen Flecht- und Webarbeiten und
ausgemalten Moscheen profitiert. Und dann habe ich, wie
ich glaube, auch von der »erzählenden« Spielweise orientali-
scher Instrumentalisten etwas übernommen. Die ist nämlich
längst nicht so zielstrebig und logisch wie unsere westliche
Musik, sie lässt mehr aus dem Augenblick geschehen. Und
schließlich vielleicht noch dies: In unserer abendländischen
Musikauffassung herrscht ein profanes Denken über den
Autor und sein Werk vor. Etwas vom Geheimnis des Musik-
machens täte uns allen gut.
aviso:
Sie haben einigen fremden Weltkulturen Einlass in
Ihre Musik gewährt – wir sind gespannt, welche die nächste
sein wird; vielleicht doch noch Indien? Jedenfalls wünschen
wir Ihnen dafür Glück und Erfolg und bedanken uns für das
Gespräch.
oben
Die chinesische Zither Guzheng.
daneben
Notenausgaben einiger Werke von
Klaus Hinrich Stahmer.
darunter
Die chinesische Mundorgel Sheng.
1...,8-9,10-11,12-13,14-15,16-17,18-19,20-21,22-23,24-25,26-27 30-31,32-33,34-35,36-37,38-39,40-41,42-43,44-45,46-47,48-49,...52
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